Barbara Vielnascher leitet den sozialökonomischen Betrieb (SÖB) Die Caterei. Im Gespräch mit Nuzzes erzählt sie von ihren Erfahrungen aus dem ersten Jahr in dieser Funktion und davon, was ihr bei der Arbeit in einem derart herausfordernden Tätigkeitsbereich hilft.
Das vergangene Jahr war eine derart intensive, spannende Zeit, wie ich sie noch nie erlebt habe. Ich bin mit all meinen Vorerfahrungen und meinem Wissen angekommen, um gleich einmal festzustellen: Ich kenne mich hier überhaupt nicht aus. Was passiert da? Ich war mit Schauen und fasziniert Beobachten beschäftigt und die Gedanken und Überlegungen, die ich hatte, waren von einem Staunen überlagert – das war wirklich eine ganz besondere Zeit.
Das löste auch unterschiedliche Erkenntnisse aus, wie dass ich hier jetzt ja Führungskraft war, aber überhaupt keinen Durchblick habe, dass ich vieles nicht weiß und die Dinge ganz anders laufen, als ich sie kenne oder als sie laufen sollten. Das verunsichert naturgemäß, ist aber interessanterweise etwas, das ich zu kaum einem Zeitpunkt als unangenehm erlebt habe. Das hat mich selbst ein bisschen überrascht. Eigentlich kann ich mich an nur ein, zwei Momente erinnern, wo ich richtig unguten Stress hatte. Die überwiegende Zeit war es ein spannendes Versuchen zu verstehen und gleichsam ein Puzzle zusammenzubauen, von dem man aber nicht weiß, wie es aussehen soll, wenn es fertig ist. Und das auch immer unterschiedlich aussehen wird, je nachdem, wer es zusammensetzt. Es ist ein Sammeln von Steinchen und vor allem ein Dinge zueinander in Beziehung setzen. Immer in Verbindung mit dem Gefühl eines hochkomplexen, intensiven Berechnungs- und Analyseprozesses, bei dem der Task-Manager durchwegs eine CPU-Auslastung von mindestens 99 Prozent anzeigt.
Es gibt hier so viele verschiedene Ebenen, die man verstehen muss. Einmal den Arbeitsalltag, mit dem, was halt an einem Tag so passiert. Die einzelnen Bereiche und wie sie zusammenhängen. Was bedeuten Dinge für das Projekt, was für unsere Trägerorganisation? Was bedeuten sie in dem Dreieck aus Projekt, Träger und Fördergeber? Und ich musste beständig mit meiner Aufmerksamkeit springen zwischen Kleinigkeiten und den großen Zusammenhängen. Schwierig war es - und bleibt es wohl auch - die Auswirkungen von Entscheidungen richtig abzuschätzen. In einem System, in dem man faszinierender Weise zwischen allen kleinen und großen Sachen einen Zusammenhang sehen kann, während man gleichzeitig versucht, sich ein Modell des Projektes und seiner relevanten Umwelten zu schaffen.
Ein Unterschied zu meiner vorherigen Position ist, dass ich in diese stufenweise aufgestiegen war, während ich hier direkt als Leiterin eingestiegen bin. Aber es gibt schon auch Parallelen, die einerseits helfen können, andererseits dazu verführen, vorschnell zu glauben, dass man etwas wiedererkennt, das aber doch etwas anderes ist. Da muss man die eigenen Annahmen und Vorerfahrungen immer wieder neu in Frage stellen. Die Spezifika sozialökonomischer Betriebe musste ich mir hier erarbeiten und eigentlich lerne ich immer noch. Es hilft, die Dinge aus möglichst unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. Denn in allen Organisationen ist die eigene Aufmerksamkeit verschiedenen Sogwirkungen ausgesetzt. Entweder, weil jemand im übertragenen Sinn besonders laut schreit oder weil etwas offenbar als besonders wichtig bewertet wird oder weil eine große Zahl beeindruckt und so weiter. Man muss sich ununterbrochen fragen: Wie steht das im Gesamtkontext? Wie steht das im Zusammenhang mit unserem Auftrag? Das ist wie der 3-S-Blick beim Autofahren. Die mir präsentierten Themen und Probleme muss ich in Bezug zum Ganzen setzen, in Bezug zur Aufgabe, denn sonst geht es ganz schnell, dass man nur mehr der Beifahrer ist. Das ist man ohnehin immer wieder und auch über weite Strecken und das ist auch ok. Ich denke nicht, dass man die ganze Zeit selbst am Steuer sitzen muss, als Beifahrer sieht man ja auch viel mehr von der Umgebung. Die Fantasie, dass man in einer Führungsposition als einziger etwas könnte oder sollte, ist ohnehin völlig absurd. Ich halte die Weisheit der Vielen für ganz, ganz wichtig. Und neben der eigenen Wahrnehmung des Geschehens in unserem Projekt war für meinen Einstieg auch unschätzbar wertvoll, die Geschichten und Erfahrungen der anderen, die hier arbeiten, zu hören.
Ich war ja diejenige unter allen, die sich am wenigsten auskannte. Meine Maxime war daher, alles, was nur irgendwie funktioniert, erst einmal unangetastet zu lassen und nur dort einzugreifen, wo es sich wirklich aufdrängte – und auch da nur sehr vorsichtig. Schließlich hatte ich es mit einem System zu tun, das ich noch überhaupt nicht verstand. Auch wenn mir ein Vorgehen noch so komisch vorkam, dachte ich mir, dass es für diejenigen, die es entschieden haben, zum Zeitpunkt der Entscheidung sinnvoll war.
Aus meiner Supervisionsausbildung hilft mir sehr, im Trubel des Tagesgeschehens mit all seinen Emotionen und Zurufen innezuhalten und wahrzunehmen, was gerade auf mich einwirkt. Auch wenn ich etwas nicht einordnen kann, gibt mir das die Möglichkeit, ein wenig Abstand zu gewinnen und nicht so getrieben zu werden. Auch die jeweiligen Grundideen des systemischen und des psychodynamischen Zugangs1 sind im hiesigen Kontext wahnsinnig praktisch.
In einem sozialökonomischen Betrieb wirken in jeder Sekunde so viele Kräfte, sind so viele Dynamiken präsent – Spannungen, Konflikte, Ängste, Hierarchien, Erwartungen, Biographien, Ausbildungen, Branchenerfahrungen, die beteiligten Organisationen. Hier wirken schon tausend Dinge, bevor wir noch überhaupt aufsperren in der Früh. Als wäre noch vor dem Anpfiff das Spielfeld bereits voll unter Strom. Und auf dieses ganz wackelige, sensible, dynamische Konstrukt setzt man dann den Betrieb auf. Zu glauben, da wäre ein fester Untergrund, auf dem man den Alltagsbetrieb abwickelt, hieße, sich einer Illusion hinzugeben. Die Wahrnehmung der Gegebenheiten des Terrains sollte man idealerweise trainieren, um in einem SÖB zu bestehen. Sie und das Wissen, in welchen Situationen welche Handlungen möglich sind – auf einem Sandplatz muss ich anders spielen als auf einem Hartplatz - sind ebenfalls eine Voraussetzung für das erfolgreiche Zusammenspiel mit den Kolleginnen und Kollegen, von dem schlussendlich das Gelingen unserer Arbeit abhängt.
Da komme immer wieder ich ins Spiel, mit meiner Aufgabe, den Zusammenhang unserer Handlungen mit dem Auftrag, dem Ziel, verständlich zu machen. Es ist im Arbeitsalltag einfach oft schwierig, das zu sehen. Der Mehrwert, den ich dann für die Mitarbeiterin oder den Mitarbeiter beisteuern kann, ist das Anknüpfen der momentanen Situation an das gemeinsame Ziel, an das, wo wir alle hinwollen. Denn man verhält sich anders zu einem Problem, wenn es in den größeren Kontext gestellt wird. Auch ist es schlicht notwendig, dass ich diese Arbeit mache und immer wieder mache. Denn der Alltag des Betriebs in seinen unterschiedlichen Bereichen bringt oft ganz andere Prioritäten mit sich und man verliert leicht einmal das übergeordnete und auch gemeinsame Ziel aus den Augen, was dann ein Auseinanderdriften der Bereiche bewirken kann und wenn das passiert, ist das ganz schlecht.
Ich empfinde die Rahmenbedingungen, die uns durch unseren Auftrag gesetzt sind, auch als entlastend. Wir arbeiten in einem Bereich, in dem es immer eine Tendenz zum Ausufern, zum Nichtbewältigen, zur Überforderung gibt, sodass es durchaus hilfreich ist, zu wissen, wo unsere Grenzen sind. Natürlich hat man gerade aus dem sozialarbeiterischen Denken heraus den Wunsch, alles lösen zu können oder überall unterstützen zu können, alles zu bewältigen. Das allerdings löst bei demjenigen, dem angeblich geholfen wird und bei dem, der angeblich hilft und auch im ganzen System völlige Überforderung aus. Dann muss man wieder die Orientierung darüber herstellen, wo wir mit unserem Zeitrahmen, unseren Ressourcen, unter den gegebenen Umständen und schließlich auch mit den Einflussmöglichkeiten, die wir auf einen anderen Menschen haben, wirksam sein können. Zeitliche und ressourcenbezogene Grenzen formen bildhaft gesprochen einen Korridor, der unseren Handlungsspielraum darstellt. Das zu erkennen, ist ganz wichtig für uns und letztendlich auch für die Menschen, die wir betreuen sollen. Die Energie soll darauf gerichtet sein, was möglich ist, nicht auf das, was ich gerne hätte oder würde oder was alles nicht geht. In einem helfenden Setting wie dem unseren hat das letzte Wort ohnehin immer der andere. Das ist auch eine wiederkehrende Form der Kränkung, die verdaut werden muss. Kein Sozialarbeiter will das hören, niemand, der sich engagiert, will das hören und auch niemand, der einen sozialökonomischen Betrieb erhalten will. Selbst wenn jeder einzelne Schritt quasi grün aufleuchten würde, von der Entscheidung im Arbeitsmarktservice über die Förderung des SÖB bis zum letzten Tag der Beschäftigung im Betrieb, der Einzelne kann den Erfolg aushebeln. Auch wenn noch so viele Weichen auf dem Weg auf grün geschaltet wurden, der Einzelne kann das Ergebnis aushebeln. Ich glaube, wenn man diesen Gedanken zulässt, dass das ganz befreiend ist und auch wieder viele Ressourcen freimacht. Es hilft enorm, wenn man um die eigene Eingeschränktheit weiß und diese akzeptiert. Weil es im Umkehrschluss – so denke ich gern – sichtbar macht, was wiederum sehr wohl meine Möglichkeiten sind.
Weiterführende Literatur
Giernalczyk Thomas, Möller Heidi; Entwicklungsraum: Psychodynamische Beratung in Organisationen; Vandenhoeck & Ruprecht; Göttingen; 2018
Haubl Rolf; Emotionen bei der Arbeit, Reflexionshilfen für Beratende; Vandenhoeck & Ruprecht; Göttingen; 2018
Kühl Stefan; Der ganz formale Wahnsinn, 111 Einsichten in die Welt der Organisationen; Verlag Franz Vahlen GmbH; München; 2023
Zur Person
Barbara Vielnascher ist gebürtige Wienerin. Sie ist seit vielen Jahren im Sozialbereich mit den Schwerpunkten Arbeitsmarktintegration und Qualifizierung tätig. Der Leidenschaft für Organisationen und ihren Menschen folgend, hat sie 2020 das Studium Supervision und Coaching am Postgraduate Center der Universität Wien begonnen. Mit diesen Erfahrungen und viel Freude an der Arbeit ist sie seit April 2022 Projektleiterin der Caterei (diecaterei.at).
Der systemische Zugang betrachtet Organisationen in Wechselwirkung mit ihren Umwelten. Psychodynamik richtet die Aufmerksamkeit auf Affekte.