Von Paul Watzlawick habe ich einmal diesen Satz gehört: “Was in der Welt nicht enthalten ist, kann sie auch nicht vorenthalten.” Es ging dabei um die Suche nach dem Sinn des Lebens oder im Leben. Als Therapeut, den Menschen mit der Bitte um Hilfe aufsuchten, hatte er naturgemäß Bedarf an Denk- und Sprachwerkzeugen, mit denen Leiden gelindert oder, andersrum gesagt, Wohlsein gesteigert werden kann. Offenbar war er zu dem Schluss gekommen, dass Klarheit darüber, was ist (und darauf aufbauend, was sein kann), dabei hilft.
Im Artikel „Bewertung, Beurteilung, Fairness und Feedback“ von Georg Engel ging es unter anderem auch darum, zwischen Wahrnehmung und Bewertung zu unterscheiden. Was wirklich vorhanden ist und vor sich geht, von allem anderen zu unterscheiden, ist natürlich ganz fundamental für das Sich-Zurechtfinden in der Welt. In einem vor einiger Zeit erschienenen Text habe ich das Thema Realismus auch behandelt. Ich füge ihn gleichsam als erweiterten Kommentar zu Georg Engels Artikel hinzu.
Es ist schon lange her, aber getan haben wir es. An irgendeinem Abend vor langer Zeit versuchten wir im Freundeskreis, die Namen aller 50 amerikanischen Bundesstaaten zu Papier zu bringen. Ohne nachzusehen, versteht sich. Es gelang nicht. Mindestens einer hat uns gefehlt. Kalifornien, Alaska, Texas oder Florida fallen einem ja schnell ein, aber man muss kein besonders großer Ignorant sein, um vom kleinsten US-Bundesstaat, der flächenmäßig nicht viel größer als Vorarlberg ist, noch nie etwas gehört zu haben. Dabei war Rhode Island immerhin die erste britische Kolonie in Nordamerika, die sich 1776 vom Königreich abwendete und war etwas später sozusagen Gründungsmitglied der Vereinigten Staaten.
Ohne wirklich danach zu suchen, habe ich zuletzt selbst auch etwas von – vergleichsweise - kleiner Größe und langer Tradition gefunden. Dass ich jüngst eine tabellarische Übersicht über die in der EDV vorhandenen Unterlagen archivierter Förderjahre der Wiener sozialökonomischen Betriebe (SÖB) und gemeinnützigen Beschäftigungsprojekte (GBP) gemacht habe, hat damit zu tun, dass wir die Bestände des physischen Archivs mit dem Stand in der EDV abgleichen müssen. Als die Tabelle fertig war, stellte ich fest, dass ich jetzt nicht nur ein Hilfsmittel zur Organisation dieser Aufgabe hatte, sondern auch einen historischen Überblick über die Entwicklung der SÖB und GBP in Wien seit der Jahrtausendwende. Über 60 dieser Projekte hat es in den Jahren seit damals schon gegeben. Und eines, das die ganze Zeit darunter war, ist jenes, das heute nach der Zahl der angebotenen Plätze das kleinste ist. Das GBP von Kolping Österreich.1
Im Interview erklärt mir Eva Stemberger, die Projektkoordinatorin des Kolping-GBP, kurz die Idee zum Projekt: „Die zahlreichen sozialen Einrichtungen von Kolping Österreich brauchen viele Arbeitskräfte. In Wohngemeinschaften, Altenwohnhäusern und leistbaren Wohnungen gibt es immer etwas zu tun: Reparaturen, Hilfe bei Umzügen, Renovierung von Zimmern und Wohnungen und allerhand mehr. Und viele junge Menschen brauchen Unterstützung, um im Erwerbsleben anzukommen und sich darin zurechtzufinden.“ Das Projekt richtet sich an junge Erwachsene; 2018 konnten 40 Prozent der ausgetretenen Transitarbeitskräfte2 in nachhaltige Arbeitsplätze vermittelt werden, berichtet Eva Stemberger.
Eva Stemberger erzählt, wie sie der bei Kolping vorherrschende, pragmatische Ansatz in der Arbeit mit den jungen Erwachsenen begeistert. Sie notiert mir ein Zitat des Gründers Adolph Kolping: „Gefordert wird von jedem, was er leisten kann.“ Ich muss an den Philosophen Arthur Schopenhauer (1788 – 1860) denken, den großen Gegner der in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorherrschenden, vom Leben abgehobenen, spekulativen Philosophie (Hegel – den Schopenhauer „Scharlatan“ und „Unsinnschmierer“ nannte - Fichte, Schelling). Ihm wurde ein hervorragender Tatsachensinn nachgesagt, ein schönes, altes Wort für etwas, das man heutzutage Realismus nennen würde. Und er vertrat vehement die Forderung, dass sich Philosophie am Leben orientieren müsse. Ob sich Kolping und Schopenhauer gekannt haben? Vielleicht ist das nicht sehr wahrscheinlich, zwei Biografien der beiden erwähnen den jeweils anderen jedenfalls nicht. Ein gewisses geistiges Näheverhältnis in der Hinwendung zum Praktischen, Tatsächlichen ist jedenfalls zu erkennen. Unter allen vorstellbaren Lösungsansätzen jene zu identifizieren, deren Realisierung in der Praxis auch tatsächlich möglich ist, heißt das zu tun, was geht (aber auch nicht weniger). Und so wurde im Kolping-Projekt voriges Jahr mit 15 jungen Erwachsenen nicht weniger als ein gelungener Eintritt in den regulären Arbeitsmarkt erreicht. Wobei Eva Stemberger das selbst gesteckte Ziel betont, dass niemand aus dem Projekt ausscheidet, ohne etwas mitzunehmen. Immer wieder melden sich „Ehemalige“ und berichten, wie sehr sie von den Erfahrungen bei Kolping profitiert haben.
Eine der im Vorjahr erfolgreich Vermittelten schreibt über ihre Arbeit im Kolping-Seniorenwohnhaus Leopoldstadt: „Als größte Herausforderung sah ich es an, das Vertrauen der Menschen zu gewinnen, denn das war sehr wichtig für die Hol- und Bringdienste. Kannten dich die Menschen nicht gut genug, so wollten sie nicht mit dir mitgehen. Was mich jedoch am meisten faszinierte, war die Dankbarkeit, die der Mensch einem dort gegeben hat und wie viel ein Lächeln von uns nur bedeuten kann.“
Seit heuer übrigens werden zusätzlich zu zwölf Transitarbeitsplätzen auch zehn Trainingsplätze3 für Frauen zwischen 25 und 40 Jahren4 in den Bereichen Abteilungshilfe, Küche und Service oder auch sozialer Arbeit mit Seniorinnen und Senioren angeboten. Den Frauen soll nach ihrer Teilnahme eine Empfehlung für eine geeignete Weiterbetreuung durch das AMS Wien mitgegeben werden können, um so ihre beruflichen Chancen zu erhöhen. Diese jüngste Neuerung und inhaltliche Erweiterung im GBP von Kolping war der Anlass, eine bereits länger überlegte Namensänderung umzusetzen und so heißt das bisherige Projekt Kolping Handwerk ab heuer chance2work.
Link zu chance2work
Link zu Paul Watzlawicks Vortrag “Wie wirklich ist die Wirklichkeit”
Foto: Damyan Doumanov (Link)
Artikel “Bewertung, Beurteilung, Fairness und Feedback”:
Das GBP von Kolping Österreich hatte seine Anfänge im Jahr 1986.
Menschen, die nach vorheriger Arbeitslosigkeit auf befristeten (Transit-)Arbeitsplätzen in einem SÖB oder GBP beschäftigt sind. Mit dieser Arbeit einher geht ein Angebot an Unterstützung (Qualifizierung, Beratung etc.), das einen (Wieder-)Anschluss an den Arbeitsmarkt fördert.
Trainingsplätze sind ein niedrigschwelliges Angebot, bei dem der Erwerb von Arbeitserfahrung im Vordergrund steht.
Bei der Zahl der angebotenen Plätze und der Zielgruppendefinition gab es zwischenzeitlich Veränderungen.