Der zweite Teil des ausgehend von einem Gespräch mit Manuel Ortlechner, dem Sportdirektor des FK Austria Wien, entstandenen Beitrages über Themen, die für den Erfolg sowohl im Fußball als auch in sozialökonomischen Betrieben (SÖB) und gemeinnützigen Beschäftigungsprojekten (GBP) wichtig sind.
Umgang mit Rahmenbedingungen
Während die offiziellen Fußballregeln der Welt-Fußballorganisation FIFA (Fédération Internationale de Football Association) das Spielfeld, den Ball, die Zahl der Spieler, die Ausrüstung der Spieler und die Befugnisse des Schiedsrichters festlegen und Regeln über die Dauer des Spiels, über Unterbrechungen, über das Erzielen eines Tores, über Abseits, Foul, Freistöße, Strafstöße, Einwurf, Abstoß und Eckstoß enthalten, sagen sie nichts darüber aus, wie das Spiel gespielt wird. (Dirk Baecker in Simon, 2009, S. 54)
Man kann Regeln in zwei Kategorien unterscheiden. Beschreibende (deskriptive) und vorschreibende (präskriptive) Regeln. Letztere können nocheinmal in Gebote (Programme, Rezepte) und Verbote (Grenzsetzungen) unterteilt werden. Will man wissen, wie man sich am Feld verhalten soll, um zu gewinnen, findet man dazu in den Fußballregeln nichts. Ganz ähnlich ist es bei SÖB und GBP. In Richtlinien und Verträgen ist nachzulesen, wie lange eine Teilnahme dauern kann, bis wann die Jahresabrechnung vorzulegen ist, wie Verschiebungen innerhalb eines Budgets abgestimmt werden, wie die Zielerreichung gemessen wird, wieviele Schlüsselkräfte eingesetzt werden und vieles mehr. Aber auch hier gibt es keine Rezepte (keine Gebote, Vorgaben oder Anweisungen) zum Erfolg zu lesen. Natürlich bedeutet das auch, dass es keine Vorschriften gibt, wie man arbeiten soll. Besonders wohl fühlen sich auf einem solchen gleichsam freien Feld jene Schlüsselkräfte (und, nicht zu vergessen, Führungskräfte), die gerne Spielräume ausfindig machen und sie nutzen. Die bereit sind, in die offenen Räume zu gehen und – mit einem Auge auf die Teamkolleginnen und -kollegen - auch einmal einen Vorstoß wagen, um herauszufinden, ob ihnen der Erfolg recht geben wird.
Anton Zeilinger, der österreichische Physiknobelpreisträger, betont die Wichtigkeit des freien Experimentierens, des Herumprobierens ins Ungewisse, und empfiehlt, nicht vorschnell aufzugeben, auch wenn einen niemand versteht oder gar unterstützt. Der Bestsellerautor Sten Nadolny („Die Entdeckung der Langsamkeit“) wiederum antwortete vor kurzem in einem Interview auf die Frage, was ihn zum Schreiben motiviere unter anderem, dass es ihn reizt, etwas zu machen, das noch niemand gemacht habe, auch wenn er dabei wahrscheinlich auf die Nase fallen wird.
Während also der Weg zum Erfolg nicht vorgezeichnet ist, gibt es über das Ziel aller Bemühungen sicherlich keinen Zweifel. Mehr Tore als der Gegner zu erzielen, beziehungsweise die gelungene Vermittlung in den regulären Arbeitsmarkt1. Der Vorteil solcher Eindeutigkeit ist, dass sie deutlich sichtbare Grenzen des Schönredens (Norbert Bolz in Simon, 2009, S. 18) erzeugt – das Erreichte zählt, nicht das Erzählte reicht (Alfred Dorfer). Wird andererseits allein das Endergebnis betrachtet, kommt die zweite Tugend der Wahrheit – neben der Aufrichtigkeit die Genauigkeit und von dieser impliziert Vollständigkeit – oft zu kurz. Am 16. November 2022 gewann Österreich gegen Andorra 1:0. Dass die Heimischen über die gesamte Spielzeit das klar überlegene Team waren, kann man am Ergebnis nicht erkennen. Ob der Ungleichheit der Mittel der beiden Mannschaften war das Spiel nicht die mitreißendste Partie. Aber dafür der Treffer! Wie Marko Arnautovic den Pass von Marcel Sabitzer volley (in Wien natürlich: wullee) mit links ins Tor schickte, war schier ein ästhetisches Geschenk.
A job well done
So knapp, wie das Ergebnis war, benannte Arnautovic nach dem Spiel seine Zuständigkeit: „Mein Job ist, Tore zu machen.“ Die Unternehmensberatung Bain hat sechs Kategorien (Archetypen) geschaffen, in die sie Beschäftige danach einordnet, was diese motiviert. Ein Archetypus ist der Kunsthandwerker, der „danach strebt, sein Handwerk auf der höchsten Stufe zu beherrschen.“ Für die Tätigkeit in einem SÖB oder GBP zeigt sich hier ein Weg, sich Enttäuschungen zu ersparen, die in der Arbeit mit Menschen unweigerlich drohen. Nämlich die Konzentration auf das, was man tatsächlich beeinflussen kann und wofür man auch zuständig ist – das eigene Handeln – und den eigenen Erfolg vom Erfolg der Transitarbeitskraft zu unterscheiden. Tatsächlich geht es in helfenden Settings ohnehin nur mit einer eher losen Koppelung der eigenen Zufriedenheit an die Entwicklung der Klientin oder des Klienten, wenn man seinen Beruf etwas länger durchhalten möchte. Die eigenen Skills und die persönliche Leistung zu verbessern und dabei womöglich den Maßstab für Performance in der Organisation ein Stück nach oben zu verschieben, liegt jedenfalls immer im Rahmen meiner Möglichkeiten. Im Gegensatz dazu, was zum Beispiel der Schiedsrichter daherpfeift.
Dazu passend noch einmal Nietzsche: „Jeder Grieche empfand in sich von Kindheit an den brennenden Wunsch, im Wettkampf der Städte ein Werkzeug zum Heile seiner Stadt zu sein: darin war seine Selbstsucht entflammt, darin war sie gezügelt und umschränkt. Deshalb waren die Individuen im Altertume freier, weil ihre Ziele näher und greifbarer waren. Der moderne Mensch ist dagegen überall gekreuzt von der Unendlichkeit wie der schnellfüßige Achill im Gleichnisse des Eleaten Zeno: die Unendlichkeit hemmt ihn, er holt nicht einmal die Schildkröte ein.“
Und auch der Kapitän der englischen Rugbynationalmannschaft, Owen Farrell, nach der Niederlage gegen Wales im 2021er-Six Nations-Turnier, blieb, während ihn die Interviewerin mit ihren Fragen unbedingt dazu bringen wollte, sich über den Schiedsrichter zu beschweren, dabei, dass sein Team sich darauf fokussieren müsse, was es auch beeinflussen kann.
Persönliche Erfolgserlebnisse nicht von etwas abhängig zu machen, das ich nicht bewirken kann, ist ein wesentlicher Faktor für Arbeitszufriedenheit und damit für Durchhaltevermögen und Einsatzbereitschaft.
„Das tun, was man liebt!“, ist noch Manuel Ortlechners Rat auf die Frage, wie man die Kraft und die Ausdauer aufrechterhält, die nötig sind, um sich über Jahre hinweg Woche für Woche wieder einem nächsten Gegner zu stellen und sich dafür körperlich und mental auf hohem Niveau zu halten. Und der Rat gilt sicher nicht nur für Fußballer.
“Das tun, was man liebt!”
Fotos, sofern nicht anders ausgewiesen: Erich Schuster
Nachwort
Alle wissen, dass es unzählige Sonnen gibt. Dennoch sagen wir „die Sonne“ und nicht „der Stern Sol“ oder „das Zentralgestirn unseres Planetensystems“ und werden verstanden, weil es um die eine geht, auf die es ankommt. Die Einzige, die wichtig ist. Die, die zählt. Nicht jeder, der „die Austria“ sagt, liebt sie auch. Aber wer sie liebt, für den ist sie die Austria, das seit 1911 ewige Zentrum der Fußballwelt und am Ende des Tages der einzige Verein, der zählt. Humberto Maturana meint, dass Lieben keine Empfindung sei, sondern ein Verhalten. Wie jene Empfindung dann heißen soll? Vielleicht kann sie – soll sie – Worten so unerschließbar bleiben, wie das Gefühl in dem Augenblick, in dem der Ball ins Spiel kommt. Das ist nämlich unbeschreiblich, wenngleich Dirk Baecker (in Simon, 2009, S. 60) bereits sehr nahe liegt: „[…] die Unbestimmtheit, die Faszination, den Schrecken des Moments des Übergangs, wenn für Sekunden oder Zehntelsekunden der Ball weder im Besitz der einen noch der anderen Mannschaft ist.“
Beendet am 29. Dezember 2022
Weiterführende Literatur
Biermann Christoph, Fuchs Ulrich; Der Ball ist rund, damit das Spiel die Richtung ändern kann; Kiepenheuer & Witsch; Köln; 2002
Simon Fritz B. (Hg.); Vor dem Spiel ist nach dem Spiel – Systemische Aspekte des Fußballs; Carl-Auer Verlag; Heidelberg; 2009
Williams Bernard; Wahrheit und Wahrhaftigkeit; Suhrkamp; Frankfurt am Main; 2003
https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Cricketer, abgerufen 09.12.2022
Zur Person
Manuel Ortlechner, MBA, geboren 1980 in Ried im Innkreis, war Profi bei mehreren österreichischen Vereinen, zuletzt bei der Austria (fk-austria.at), mit der er als Kapitän auch Meister wurde. Seit 2021 ist er ihr Sportdirektor. Neunmal spielte er in der Nationalmannschaft.
Begriffe
Schlüsselkräfte: In SÖB (sozialökonomische Betriebe) und GBP (gemeinnützige Beschäftigungsprojekte) fix Beschäftigte wie Fachanleitungspersonal, Coaches etc.
Transitarbeitskräfte: Menschen, die nach vorheriger Arbeitslosigkeit auf befristeten (Transit-)Arbeitsplätzen in einem SÖB oder GBP beschäftigt sind. Mit dieser Arbeit einher geht ein Angebot an Unterstützung (Qualifizierung, Beratung etc.), das einen (Wieder-)Anschluss an den Arbeitsmarkt fördert.
Zwar gab es just in Wien bei Testspielen zwischen der von 1894 bis 1936 bestehenden Fußballsektion des Vienna Cricket and Football Club und der Vienna (deren Gründung genau einen Tag vor jener der Cricketer behördlich genehmigt wurde und die deshalb den bis heute geführten Namenszusatz „First“ zugesprochen bekam) Regelexperimente, bei denen Punkte nicht nur für Tore, sondern auch für zum Beispiel die Schönheit der Spielzüge, Fairness und die Körperhaltung der Spieler vergeben wurden, durchgesetzt hat sich das jedoch nicht. Jedenfalls nicht bei der Entscheidung darüber, wer ein Spiel gewonnen hat. Aber bei der Weltmeisterschaft 2018 gab die geringere Anzahl der in den Vorrundenspielen erhaltenen gelben Karten den Ausschlag für Japan, als es um den Aufstieg ging. Bei sechs anderen Kriterien (Punkte, erzielte Tore etc.) waren die Japaner und der Senegal gleichauf gelegen.