Laut der Zeitung Economist kann von den 10.000 Jugendlichen in den Nachwuchsakademien englischer Fußballklubs später ein Prozent vom Fußball leben. Auch in Österreich ist der Arbeitsmarkt am obersten Level klein – wenn man bei den zwölf Erstligavereinen je um die 30 Profis im Kader rechnet, ergibt das rund 360 Arbeitsplätze. Einer, der in diesem Segment lange erfolgreich war, ist Manuel Ortlechner, Sportdirektor des FK Austria Wien. Mit ihm habe ich über Themen gesprochen, die für den Erfolg sowohl im Fußball als auch in sozialökonomischen Betrieben (SÖB) und gemeinnützigen Beschäftigungsprojekten (GBP) wichtig sind.
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Friedrich Nietzsche – der „liebe Fritz“, wie ihn Richard Wagners Frau Cosima nannte - war ja gelernter Sprachwissenschaftler und hatte an der Universität Basel einen Lehrstuhl für Latein und Altgriechisch inne. Entsprechend umfassend und detailliert war seine Kenntnis antiker Texte. In seiner vor 150 Jahren entstandenen Schrift „Homers Wettkampf“ berichtet er von einem Lehrgedicht Hesiods, nach dem nicht nur eine, sondern zwei Göttinnen des Streits auf Erden seien, von denen die eine – als gute gepriesene – den Menschen nicht zum Vernichtungskampf, sondern zum Wettkampf treibe. Im alten Griechenland, so Nietzsche weiter, galt die Überzeugung, dass sich Begabung nur im Wettstreit entwickeln könne und Ziel dieser agonalen Erziehung war „die Wohlfahrt des Ganzen, der staatlichen Gesellschaft. Jeder Athener z. B. sollte sein Selbst im Wettkampfe so weit entwickeln, als es Athen vom höchsten Nutzen sei und am wenigsten Schaden bringe.“ Es wundert nicht, dass die olympischen Spiele im antiken Hellas entstanden.
Apropos Olymp. „Zuerst war eine Tegelanhäufung am Meeresgrunde, auf der sich eine Sandbank anlagerte. Das Meer wich zurück, die Sandbank wurde Festland. Es herrschte anfangs ein warmes, dann ein kaltes Klima. Ein Strom ergoß sich über unsere Wohnscholle. Er änderte seinen Lauf und modellierte den Laaerberg heraus. Winde schütteten Löß auf und schenkten dabei der ursprünglich vegetationsleeren Sand- und Schotterwüste eine fruchtbare Erdkrume.“ So erfährt man im „Heimatbuch des 10. Wiener Gemeindebezirkes“ von 1928. Und obenauf am Laaerberg steht die Generali-Arena, die Heimstätte der Wiener Austria, der „Veilchen“.
Mut. Die Bereitschaft, sich neuen Herausforderungen zu stellen.
Manuel Ortlechner war Spieler und Kapitän der Austria, mit ihr wurde er österreichischer Fußballmeister. Heute ist er Sportdirektor der Violetten und damit für nicht weniger als 17 Teams – auch „Planet Viola“ genannt - verantwortlich, die in verschiedenen Ligen um Punkte kämpfen. Von der U7 für die Allerjüngsten bis hinauf zu den Profis, die in der Bundesliga spielen. Von zentraler Bedeutung ist es, die Entwicklung des Nachwuchses über die verschiedenen Stufen – Nachwuchs, Akademie, Young Violets – bis idealerweise in die Kampfmannschaft zu gestalten und zu unterstützen. Anschlussfähigkeit und Durchlässigkeit sind zwei Ziele, die Ortlechner in diesem Zusammenhang hervorhebt. Um sie zu erreichen, gilt es, Spielsysteme und Training auf allen Stufen zu harmonisieren. Das Organisationshandbuch der Austria – das Playbook, auch „die papierenen Seiten“ genannt, ein Verweis auf den überragendsten Fußballer Österreichs, den Austrianer Matthias Sindelar, der wegen seines leichtfüßigen Stils der „Papierene“ genannt wurde – enthält sogar ein Glossar zur Vereinheitlichung von Bezeichnungen.
Über die Frage, welche Haltung von Seiten der Spieler wichtig ist für den Erfolg in der Entwicklung und auf dem Platz, muss Ortlechner nicht lange nachdenken. „Mut. Die Bereitschaft, sich neuen Herausforderungen zu stellen.“
Auch nicht lange nachdenken muss man, um die Parallelen zu SÖB und GBP zu erkennen. Da wie dort steht die Entwicklung einer Person im Fokus. Sei es in Vorbereitung auf den Schritt eine Stufe weiter, sei es, um nach einer zum Beispiel verletzungs- oder gesundheitsbedingten Pause in der zweiten Mannschaft oder im SÖB/GBP wieder Praxis zu sammeln. Um diese bestmöglich zu fördern, ist das unterstützende Umfeld zu optimieren. Und im einen wie im anderen Fall heißt es, beständig und immer wieder den Willen zu aktivieren, sich durchzusetzen und zu bestehen.
Flexibilität (und Vielfalt)
Auch dazu, wie das Potential eines Teams möglichst optimal zur Wirkung gebracht werden kann, gibt uns der Mannschaftssport interessante Anregungen.
In einem Buch über modernen Fußball (Biermann, Ulrich, 2002, S. 104 ff.) hat das Kapitel über totalen Fußball den Untertitel „Fußball ganzheitlich, alle machen alles“. Totaler Fußball war eine Spielweise, die in den 1960ern in den Niederlanden entstand und das Spiel revolutionierte. „Zunächst einmal bedeutete sie, dass es keine Spezialisten im hergebrachten Sinn mehr geben sollte. Also Verteidiger, die nur verteidigen, und Angreifer, die nur angreifen können. Im Idealfall sollten alle Spieler auf allen Positionen agieren können.“ Weiters wurden, um Laufwege zu verkürzen und Kraft zu sparen, während des Spiels die Positionen getauscht – zum Beispiel sprang für den gerade um 70 Meter nach vorne gelaufenen Verteidiger, damit dieser nicht sofort wieder zurücklaufen musste, ein anderer Spieler ein. „Diese Spielweise war anspruchsvoll und brauchte intelligente Spieler, die sich nicht nur auf einen Gegner, sondern auf das gesamte Spiel konzentrieren können.“
Einen aufschlussreichen Kontrast bietet der Vergleich von American Football mit Rugby. Und zwar im Hinblick auf die sogenannten Ball Handling Skills, also die Fähigkeiten beim Werfen, Fangen etc. Da American Football stark spezialisierte Spielerfunktionen hat, gibt es dort Spieler, die das ganze Spiel über nie mit dem Ball in Kontakt kommen und daher diese Skills nicht brauchen. Im Rugby hingegen muss jeder auf dem Platz anspielbar sein und wenn er den Ball bekommt, auch etwas mit diesem anfangen können. Das bedeutet natürlich nicht, dass alle im Hinblick auf ihre Fähigkeiten ident wären, auch im Rugby gibt es unterschiedliche Positionen mit je eigenen physischen und technischen Voraussetzungen. Aber die Basics muss jeder beherrschen.
Schlussendlich haben auch diejenigen SÖB und GBP einen Vorteil, in denen die Schlüsselkräfte die Handlungen der anderen als sinnvoll im Sinne des übergeordneten Ziels verstehen können und bildlich gesprochen den Ball zu spielen in der Lage sind, wenn er vor ihren Füßen landen sollte. Vor allem die Schlüsselkräfte in den Geschäftsbereichen lernen die Transitarbeitskräfte ja oft sehr gut kennen, wie man sich eben beim Arbeiten kennenlernt. „Man bringt eine Gruppe oder eine Person zu einem Einsatzort und plaudert während der Fahrt. Und diese Person lässt einen unvermittelt, vielleicht nur mit drei Sätzen, einen echten, authentischen Blick in ihr Universum werfen“, erzählt Peter Wagner in einem anderen Nuzzes-Beitrag. Und wenn dann ein Satz fällt, wie: „Eigentlich wollte ich immer das oder das werden“, dann braucht es aufmerksame Schlüsselkräfte mit der Fähigkeit, daran anzuknüpfen und diese Erkenntnis für den Weg in den regulären Arbeitsmarkt nutzbar zu machen. Oder anders gesagt: diesen Ball für den Aufbau eines möglicherweise vielversprechenden Spielzuges zu verwerten.
Auf einen anderen Aspekt von Totalität weist Manuel Ortlechner hin, indem er Ralf Rangnick zitiert. Die Spieler müssen die gesamte Zeit durchgängig auch geistig online sein, also im Spiel, am Spiel beteiligt. Den Stürmer, der nach Ballverlust die Hände in die Hüften stemmt und in der gegnerischen Hälfte darauf wartet, dass der Ball wieder in seine Nähe kommt, gibt es schon lange nicht mehr. Heute macht er sich stattdessen sofort wieder auf, um seinen Mitspielern zu helfen.
Ich selbst habe als Leiter eines sozialökonomischen Betriebs immer wieder darauf geschaut, ein paar Stunden Zeit zu finden, um in der Werkstatt mitzuarbeiten. Solche „Mini-Praktika“ in der eigenen Organisation sind unschätzbar wertvolle Trainingseinheiten um, unter anderem, die Übersicht über das Gesamtsystem, Einfühlungsvermögen und Kooperationsfähigkeit zu erlangen. Ein solches Training lässt sich in einem SÖB oder GBP auch vergleichsweise einfach plan- und regelmäßig umsetzen und hebt das „Eingespieltsein“ des Teams. Diese Erfahrung habe ich bei einem Praxiseinsatz als Gastmitarbeiter im sozialökonomischen Betrieb TOP-Lokal erlebt und beschrieben: „Wer besser steht, nimmt dem anderen die hereinkommende Last ab. Auf engem Raum suchen und finden wir den optimalen Weg für das Geschirr in die Kiste. Kniend strecke ich ohne aufzuschauen die Hand aus und der Kollege gibt mir die richtige Geschirrsorte, ohne zu fragen. Ich habe kapiert, dass es Slavisa an der Bar lieber ist, wenn er mir die leeren Gläser selbst vom Tablett nehmen kann und stelle sie ihm nicht mehr einzeln hin.“ Wenn solch eine Zusammenarbeit gelingt, fördert das die Akzeptanz und das Gemeinschaftsgefühl, dann spielen alle dasselbe Spiel und haben dasselbe Ziel: die Arbeit gut zu erledigen und den Erfolg als gemeinsamen zu erleben.
Vielfalt und Flexibilität finden sich auch in der Gestaltung der Interventionsform SÖB bzw. GBP. Wenig bis nichts im Feld der arbeitsmarktintegrativen Instrumente umfasst eine so vielseitige Mischung an Ansätzen: Beschäftigung, Qualifizierung intern und extern, Beratung, Coaching, Sozialarbeit, Überlassung, Personalvermittlung. Im Fußball sind jene Teams am erfolgreichsten, die das Repertoire möglicher Abläufe möglichst komplett kompetent abrufen können. In SÖB und GBP ist das geradezu unerlässlich. In einer Lehrveranstaltung über Psychopharmakologie ließ unser Vortragender, ein erfahrener Arzt aus der Psychiatrie, die Anwesenden, stark dem psychotherapeutischen Weg zugeneigten, lange über die Rechtfertigung des Einsatzes von Psychopharmaka diskutieren. Die in der Diskussion entstandene Gewissheit, dass dieser am besten unterbleiben sollte, wandelte sich durch sein „Aber wenn’s hilft?“ in die beginnende Erkenntnis, dass natürlich das Lindern von Leid bzw. die Vergrößerung von Wohlsein wichtiger sein muss als die Verwirklichung eines Ideals der (vermeintlich) helfenden Person. Dasselbe gilt für die Anwendung aller Möglichkeiten, die im Instrument SÖB und GBP für die Arbeitsmarktintegration jener Menschen, denen zu helfen das Instrument da ist, zur Verfügung stehen.
Auch in ihrer Bedeutung für die eigene Arbeitszufriedenheit ist diese Erkenntnis nicht zu unterschätzen, ermöglicht sie doch Gelassenheit gegenüber jenem Scheitern erlernter Methoden und einstudierter Lösungsansätze, das die Praxis immer wieder für uns bereithält.
Fortsetzung folgt.
Fotos, sofern nicht anders ausgewiesen: Erich Schuster
Weiterführende Literatur
Biermann Christoph, Fuchs Ulrich; Der Ball ist rund, damit das Spiel die Richtung ändern kann; Kiepenheuer & Witsch; Köln; 2002
Zur Person
Manuel Ortlechner, MBA, geboren 1980 in Ried im Innkreis, war Profi bei mehreren österreichischen Vereinen, zuletzt bei der Austria (fk-austria.at), mit der er als Kapitän auch Meister wurde. Seit 2021 ist er ihr Sportdirektor. Neunmal spielte er in der Nationalmannschaft.
Begriffe
Schlüsselkräfte: In SÖB (sozialökonomische Betriebe) und GBP (gemeinnützige Beschäftigungsprojekte) fix Beschäftigte wie Fachanleitungspersonal, Coaches etc.
Transitarbeitskräfte: Menschen, die nach vorheriger Arbeitslosigkeit auf befristeten (Transit-)Arbeitsplätzen in einem SÖB oder GBP beschäftigt sind. Mit dieser Arbeit einher geht ein Angebot an Unterstützung (Qualifizierung, Beratung etc.), das einen (Wieder-)Anschluss an den Arbeitsmarkt fördert.