In seiner Vorlesung „Glanz und Elend der Geisteswissenschaften“ stellt der Philosoph Jürgen Mittelstraß die Frage, ob uns der Blick in die unendlichen Weiten des Universums wirklich Bedeutenderes lehrt als der Blick in das Auge des Anderen. In helfenden Berufen in Interaktion mit dem Anderen arbeitende Menschen haben häufiger als andere Gelegenheit zu der Erfahrung eines erfüllenden Gefühls von Richtigkeit, Stimmigkeit, das sich einstellt, wenn man dem den Menschen angeborenen Instinkt, einander beizustehen, folgt. In sozialökonomischen Betrieben (SÖB) und gemeinnützigen Beschäftigungsprojekten (GBP) arbeitet man oft unter Bedingungen am Rande des Erträglichen. Auch Sport kann schmerzhaft sein und anstrengend. Im Gespräch mit dem österreichischen Rugby-Internationalen Benni Dachler und der Unternehmensberaterin und Kampfsporttrainerin Irene Zavarsky hat Nuzzes unter anderem auch die Frage nach der Motivation gestellt.
Motivation
Benni Dachler:
Zum einen ist da die intrinsische Motivation, Grenzen auszuloten und sich selbst kennenzulernen, was im normalen Alltag so nicht möglich ist. Dann ist da etwas, das Snowboarder oder Surfer Flow-Zustand nennen. Ich kenne keinen anderen Sport, bei dem man so im Hier und Jetzt ist. Ich kann es mir beim Rugby nicht leisten, mit dem Kopf in der Zukunft oder in der Vergangenheit zu sein, ich muss agieren und auf das reagieren, was jetzt vor mir ist. Andernfalls tut es physisch schnell noch mehr weh als es das Spiel ohnehin mit sich bringt. Die besten Spiele sind die, an die man sich nachher nicht mehr erinnert, weil man so tief drinnen war. Nur ein Gefühl, das man nur schwer beschreiben kann, ist dann in einem. Das ist extrem motivierend und schön. Den Sport dann auch auf einer Wettkampfebene auszuüben ist noch eine zusätzliche Motivation. Nachdem ich mittlerweile selbst nicht mehr spiele, bin ich auf der Suche nach etwas Vergleichbaren, aber da bin ich bisher noch nicht fündig geworden. Ich habe Teamsport betrieben, seit ich ein kleines Kind war. Nun habe ich selbst ein kleines Kind und keine Zeit. Einzelsport lässt sich da zeitlich besser unterbringen und daher habe ich jetzt einmal einen Triathlon über die olympische Distanz absolviert.
Was den Rugbysport auch auszeichnet, ist der sehr kollegiale, freundschaftliche und offene Umgang miteinander. Einige meiner besten Freunde spielten oder spielen Rugby. Und wo immer auf der Welt ich war, bin ich schnell auf- und angenommen worden. Das waren sehr schöne Erfahrungen. In Venezuela beispielsweise habe ich schon nach zwei Tagen, in denen ich in einem billigen Hostel gewohnt habe, bei Mitspielern daheim auf der Couch geschlafen, obwohl wir einander davor nicht gekannt hatten und ich kaum Spanisch spreche.
Integration
Ich beschäftige mich auch in meiner Arbeit damit, wie man junge Menschen, die aus schwächeren sozialen Verhältnissen sind, zum Sport bringen kann. Bei Rugby hilft, dass es schon einmal ein sehr kostengünstiger Sport ist, an spezieller Ausrüstung braucht man nur Rugby- oder Fußballschuhe und einen Zahnschutz. Für ein Gelingen ist allerdings das soziale Umfeld überragend wichtig und es ist ganz schwer für die Kids, wenn Sport dort überhaupt keinen Stellenwert hat. Mit dem Projekt Rugby Opens Borders wiederum versuchen wir, jungen Flüchtlingen einen sozialen Halt zu geben und einen Einstieg in unsere Gesellschaft. Für manche wird die Rugby-Community mit ihrem starken Zusammenhalt und dem Füreinander-da-Sein dann ein echter Familienersatz.
Irene Zavarsky:
Toll ist auch, dass die Sprachbarriere fast ganz egal ist. Schauen, was die anderen machen und selbst probieren geht auch so und du kannst vollwertiger Teil der Gruppe sein, obwohl du die Sprache überhaupt nicht sprichst
Sport spricht viele Sprachen.
Völlig richtig. Und du lernst beim Sport jemanden auf eine ganz andere Art und Weise kennen. Was du im Training nach vier, fünf Begegnungen von der anderen Person mitkriegst, dafür würdest du sonst Jahre brauchen. Körper lügen nicht, auch wenn das jetzt vielleicht etwas esoterisch klingt. Auch Respekt, Anerkennung und Wertschätzung werden auf einer ganz eigenen Ebene vermittelt. Und Charakterzüge treten schneller zutage, weil man auch schneller als sonst an Leistungsgrenzen kommt, überfordert ist und sich nicht mehr verstellen kann.
Ich kann das nur bestätigen. Speziell bei Kontaktsport. Wenn ein 120-Kilo-Spieler auf uns zuläuft und mein kleiner, schmächtiger Mitspieler schmeißt sich mit hinein und wir purzeln übereinander, dann setzt sich der in dem Moment für mich ein und ich mich für ihn. Das wird sofort ins Zwischenmenschliche transportiert, weil man einfach weiß, dass man jetzt gemeinsam eine Situation gemeistert hat, die nicht alltäglich war und ich habe erlebt, wie sich der andere für mich voll hineingehaut hat.
Du spürst auch sofort Alleingänge und was die mit der Gruppe machen. Natürlich ist das utopisch, aber ich wäre ernsthaft überhaupt dafür, dass alle sich eine solche Sportart, bei der man mit Menschen in Kontakt ist, finden und sie mindestens drei Jahre ausüben.
Zum integrativen Aspekt wäre noch zu sagen, dass man beim Training einfach einmal für zwei Stunden den Kopf freibekommt und man nicht reduziert wird auf Herkunft, Religion, sexuelle Orientierung oder was auch immer.
Dafür wird man auf die körperliche Leistung reduziert. Aber die kann man wenigstens trainieren.
Ja. Und zumindest werden alle anderen auch auf dasselbe reduziert.
Teamsport eignet sich darüber hinaus noch aus mehreren Gründen zur Vermittlung von Normen und Werten. Man kann innerhalb der Regeln sehr viel machen – sich auspowern, an seine Grenzen gehen – doch wenn ich mich nicht an den Rahmen halte, bin ich relativ schnell weg vom Fenster und werde vom Training oder vom Spiel ausgeschlossen. Pünktlichkeit zählt – Trainingsbeginn ist für alle um 19 Uhr und nicht zehn Minuten danach – und zum Beispiel setzen wir bei Jungs aus dem arabischen Raum gezielt Trainerinnen ein und damit finden die Burschen auch sehr schnell einen guten Umgang. Auch ein paar Worte Deutsch wie „links“, „rechts“ oder „passen“ schnappt man schnell auf.
Besser werden und sein
Mit Sport wird auch vermittelt, dass Erfolg wirklich, wirklich viel Arbeit ist. Ich kann schon versuchen, Boxweltmeisterin zu werden. Aber dann muss ich täglich sechs Stunden dem Training widmen, dann habe ich eine Chance. Ab und zu ein bisschen trainieren und auf Instagram posten reicht da nicht.
Und in der Arbeit wie im Sport gilt, dass Wettbewerb Teams und Einzelne stärker macht. Bei Unterforderung gibt es keine Weiterentwicklung. Die Besseren verlieren dann vielleicht sogar noch gegen die Schwächeren, weil sie nicht motiviert waren.
Wobei ein Indikator für ein wirklich gutes Team ist, wenn man es schafft, auch gegen einen schwächeren Gegner sein Spiel durchzuziehen und sich nicht auf das niedrigere Niveau herablässt. Für eine Weiterentwicklung ist es wiederum wichtig, sich mit Stärkeren anzulegen und zu versuchen, über seiner eigenen Klasse zu punkten. Zum Beispiel spielt die erste Mannschaft der Rugby Union Donau, die Donaupiraten, in der tschechischen Liga, weil dort mehr stärkere Gegner zu finden sind. Und aus meiner eigenen aktiven Zeit erinnere ich mich zum Beispiel an ein Spiel auf europäischer Ebene gegen ein Team aus Rumänien, eine traditionell starke Rugbynation, das wir hoch verloren haben. Aber unsere zwei erzielten Tries haben uns daran glauben lassen, dass wir den nächsten Schritt machen können.
Fotos: Erich Schuster
Weiterführende Literatur
Kropotkin Peter; Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt, Vorwort von Franz M. Wuketits; Trotzdem; Frankfurt; 2011
Benni Dachler ist sportlicher Leiter der Rugby Union Donau Wien (www.rugbydonau.at) und Mitbegründer der sportlich-integrativen Initiative Rugby Opens Borders (www.rugbyopensborders.at). Als Spieler hat er mehrmals die österreichische Rugby-Staatsmeisterschaft gewonnen und war auch im Rugby-Nationalteam aktiv.
Irene Zavarsky ist promovierte Sozialwissenschafterin, Unternehmensberaterin und Kampfsporttrainerin. Sie entwirft maßgeschneiderte Lösungen und findet theoretische Ansätze nur dann spannend, wenn sie Eingang in die gelebte Praxis finden können. Momentan sind Risiko und Antifragilität ihr Steckenpferd. Sie ist beraterisch tätig bei t.b.m Training.Beratung.Moderation OG (www.kompetentberaten.at) und sportlich aktiv im KaiGym (www.kaigym.at).
Dank
Die Einleitung zu diesem Beitrag fand wesentliche Inspiration in einer von Nuzzes eingesehenen Arbeit von Barbara Vielnascher.