Sozialökonomische Betriebe (SÖB) und gemeinnützige Beschäftigungsprojekte (GBP) sind Unternehmungen mit hoher Komplexität und Intensität. Der Systemtheoretiker und Organisationsforscher Fritz B. Simon hat sie mit einem Durchlauferhitzer verglichen. Ein solcher verbraucht nicht ohne Grund viel Energie – etwas muss in kurzer Zeit von einem Zustand in einen anderen gebracht werden. Das Ergebnis ist nicht speicherbar, der Prozess beginnt jedes Mal von Neuem. Menschen versuchen mit der Hilfe von SÖB und GBP, ihre Handlungsfähigkeit bei der Gestaltung ihres Lebens zu vergrößern. Die Stammbelegschaft versucht ihr Bestes, ihnen dabei zu helfen. Dazu ist es erforderlich, stetig Leistung auf hohem Niveau abzurufen. Vergleiche mit Sport liegen nahe. Daraus ergeben sich begeisternde und inspirierende Gespräche wie jenes mit dem österreichischen Rugby-Internationalen Benni Dachler und der Unternehmensberaterin und Kampfsporttrainerin Irene Zavarsky. Dabei hat Nuzzes versucht, Themen zu beleuchten, die wichtig für die Arbeit in SÖB und GBP sind.
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Flexibilität und Spezialisierung
Benni Dachler:
Beim Rugby gibt es in der Kinderarbeit gar keine fixen Positionszuschreibungen, Spezialisierungen erfolgen dann erst im Jugend- bzw. frühen Erwachsenenalter. Im Training müssen alle alles machen, mindestens zwei Drittel des Trainings werden gemeinsam absolviert. Bestimmte Aufgaben werden je nach Position schon unterschiedlich intensiv trainiert. Die Stürmer üben zum Beispiel andere Dinge als die Hintermannschaft. Auch international ist der Trend, dass alle Spieler gut fangen, passen, kicken, tackeln (Anm.: den Gegner mit den Armen festhalten und zu Boden bringen) und laufen können müssen. Das bringt größere Ansprüche an die körperlichen Voraussetzungen mit sich, die athletische Grundlage sollte dann bereits im Kindesalter gelegt werden. Man sieht auch eine gewisse Vereinheitlichung des Spielertypus in Richtung 1,90 Meter groß, 100 Kilo schwer und 12 Sekunden oder weniger für den 100-Meter-Sprint. Weiterhin sieht man aber auch Spielerinnen und Spieler, die deutlich kleiner und leichter sind und gegen andere mit 2 Metern und 120 Kilo ranmüssen. Rugby ist immer noch ein Sport „for all shapes and sizes“.
Irene Zavarsky:
Ist es beim Tackeln nicht sogar ein Vorteil, kleiner zu sein, weil ich mich weniger weit hinunterbeugen muss? Ich kenne das jedenfalls vom Grappling (Anm.: Eine Art Ringen) so.
An sich ja, aber beim Tackling spielt halt doch die Schwungmasse eine ganz wesentliche Rolle. Wir sagen den kleineren Spielerinnen und Spielern jedoch schon, dass bei den Knöcheln alle gleich groß sind, auch die großen Kaliber, das heißt, fallen tun sie alle gleich.
Die Großen fallen sogar noch weiter.
Ja, the bigger they are, the higher they fall.
Beim Nicht-Spezialisiertsein sehe ich eine Parallele in der Unternehmensberatung und Organisationsentwicklung, nämlich im Konzept der Antifragilität, dessen eine Grundidee ist, dass es keine Einzelleistungen gibt, sondern ausschließlich Teamleistungen. Es gibt immer ein Umfeld, das mich dabei unterstützt, das zu leisten, was ich leiste. Auch wenn man es nicht in jedem Kontext so gut sieht wie bei Teamsportarten – bei Einzelsportarten gibt es beispielsweise meine Trainer und Sparringpartner, im Büro vielleicht das Backoffice undsoweiter. Außerdem sind spezialisierte Einzelkämpferinnen und Einzelkämpfer quasi Bruchstellen in der Organisation, weil wenn so jemand ausfällt, ist ein ganzer Prozess oder ein ganzes Projekt gefährdet. Die Kehrseite der Lösung, nämlich Doppel- oder Mehrfachbesetzungen in die Richtung „alle können alles“ zu schaffen, ist freilich ein höherer Ressourcenaufwand.
Beim Rugby dürfen zum Beispiel auf der Position der Props, also der Erste-Reihe-Stürmer, sogar nur Spieler mit einer speziellen Ausbildung eingesetzt werden. Ein Einzelner kann aber nie so spielentscheidend sein, wie zum Beispiel beim Basketball oder im Fußball ein Messi oder ein Ronaldo, wobei deren Rolle auch von den Medien hochgespielt wird. Das Schöne am Rugby ist, dass man als Team gewinnt oder verliert. Und wenn ein George Ford jetzt beim WM-Spiel gegen Argentinien mit seinen Kicks alle Punkte der Engländer gemacht hat, dann deshalb, weil er ein enorm guter Kicker ist. Aber dass er überhaupt in eine für einen Treffer aussichtsreiche Position kommt, das ist die Teamleistung.
Ich denke, dass es auch in Unternehmen nicht darum geht, dass es keine Spezialisierungen mehr geben soll. Aber es ist von Vorteil, wenn es noch ein, zwei andere gibt, die auch zumindest ungefähr eine Ahnung von der Aufgabe haben, auch wenn sie sie nicht so schnell oder kompetent erledigen können wie die spezialisierte Person.
Ungeplante und unvorhersehbare Situationen
Wir geben den Spielerinnen und Spielern mit, dass sie sich nicht allein auf den Spielplan verlassen sollen. Auch Fehler passieren ständig und überall. Worauf es ankommt, ist, wie man auf sie reagiert. Wir fassen unsere Einstellung dazu in der Devise „fuck up – fix up“ zusammen. Wichtig ist, den Fehler auszubessern, statt sich selbst oder untereinander Vorwürfe zu machen. Entscheidend ist auch, dass man agiert. Schon im Kinder- und Jugendtraining betonen wir, dass es wichtiger ist, eine Entscheidung zu treffen und durchzuziehen, als unentschlossen vor einer Situation zu stehen und gar nichts zu tun. Die Analyse und das Lernen folgen dann später. Wenn ich zum Beispiel den Ball bekomme und stehenbleibe, bin ich ein leichtes Ziel, habe keine Körperspannung und werde umgerannt. Wenn ich mit Kraft und Konzentration nach vorn gehe, dann habe ich es zumindest versucht, auch wenn ich links und rechts von mir andere hätte anspielen können, die besser gestanden wären. Aber ich habe zumindest den Entschluss zum Handeln gefasst. Stehenbleiben und die Hose voll haben ist nie eine gute Option.
Also keine Entscheidung ist immer die schlechtere Entscheidung.
Genau!
Teambuilding auf dem Platz und abseits davon
Gemeinsam gemeisterte Hürden oder überstandene Schwierigkeiten schweißen natürlich zusammen. Wichtig ist auch die „3. Halbzeit“, in der man Siege und auch Niederlagen feiert. Oder gemeinsame Aktivitäten, wie bei uns zuletzt, als wir miteinander unser Clubhaus ausgeräumt haben, das danach abgerissen wurde und jetzt neu gebaut wird. Der sozusagen dickere Punkt ist aber schon, zusammen auf dem Spielfeld durchs Feuer zu gehen. Unvergessen bleibt mir zum Beispiel ein Spiel in Kroatien im strömenden Regen, wo der halbe Platz unter Wasser stand und wir manchmal halb ertrunken sind, weil man ja doch öfter unter mehreren Körpern am Boden liegt.
Ich sehe da auch einen Zusammenhang mit dem Thema der Fehlerkultur von vorhin. Es ist gut, wenn es Gelegenheiten gibt, wo man ohne Druck etwas ausprobieren kann, das man sonst nicht versuchen würde, weil man es eigentlich als unpassend ansieht oder es ein bisschen dumm findet oder weil unter Normalbedingungen zu viel am Spiel steht. Eben der Ausgang des Spiels oder im Arbeitskontext mein Projekt, meine nächste Beförderung oder gar mein Arbeitsplatz. Wenn ich immer nur den Ernstfall zum Üben habe, werde ich viel gehemmter sein, weil das Risiko viel größer ist. Das Antifragilitätskonzept kommt ja aus der Risikoforschung und darauf gestützt sagen wir, dass, wenn der erwartete Gewinn größer ist als der zu befürchtende Verlust, dann macht das antifragiler, dann ist Wachstum unter Druck möglich. Das lässt sich auch im Arbeitskontext umsetzen. Google wird hier immer wieder als Beispiel angeführt. Dort ist ein Teil der Arbeitszeit fix für Ausprobieren und kreativ Herumspielen gewidmet, damit die Leute auf neue Ideen kommen. Bei Klausuren und ähnlichen Aktivitäten muss man aufpassen, dass das Kreative, Ungezwungene nicht als quasi „bespaßende Tagesstruktur zum Zeitvertreib zwischen den Mahlzeiten“ empfunden wird. Die Inhalte sollten deshalb im Voraus in einem kommunikativen Prozess gemeinsam gefunden und nicht einfach vorgegeben werden. Wobei rein hierarchische Zugänge und Zwang ohnehin obsolet sind und die Leute gerade in Zeiten von Arbeits- und Fachkräftemangel sich schneller nach besseren Arbeitsbedingungen anderswo umschauen. „Je brutaler euer Zugriff wird, Tarkin, umso mehr Sternensysteme schlüpfen euch durch die Finger“, wie Prinzessin Leia in Krieg der Sterne sagt.
Fotos, sofern nicht anders angegeben: Erich Schuster
Begriff
Versuch (eng.: Try, fr.: Essai): Wenn es beim Rugby gelingt, den Ball hinter der gegnerischen Grundlinie abzulegen.
Benni Dachler ist sportlicher Leiter der Rugby Union Donau Wien (www.rugbydonau.at) und Mitbegründer der sportlich-integrativen Initiative Rugby Opens Borders (www.rugbyopensborders.at). Als Spieler hat er mehrmals die österreichische Rugby-Staatsmeisterschaft gewonnen und war auch im Rugby-Nationalteam aktiv.
Irene Zavarsky ist promovierte Sozialwissenschafterin, Unternehmensberaterin und Kampfsporttrainerin. Sie entwirft maßgeschneiderte Lösungen und findet theoretische Ansätze nur dann spannend, wenn sie Eingang in die gelebte Praxis finden können. Momentan sind Risiko und Antifragilität ihr Steckenpferd. Sie ist beraterisch tätig bei t.b.m Training.Beratung.Moderation OG (www.kompetentberaten.at) und sportlich aktiv im KaiGym (www.kaigym.at).
Dank
Der am Beginn verwendete Vergleich Fritz B. Simons von SÖB und GBP mit einem Durchlauferhitzer wurde dankenswerterweise von Barbara Vielnascher dokumentiert.