Verstehen, wie wir Menschen funktionieren
Ein bisschen Neurobiologie und positive Psychologie an Hand von Beispielen aus der Fachanleitung. Von Georg Engel
In diesem Beitrag lesen Sie, warum unsere eigenen Erfahrungen gleichzeitig hinderlich und förderlich für die Arbeit mit Menschen sind. Sie erfahren etwas über Selbstachtsamkeit mit Hilfe des inneren Scheinwerfers und darüber, wie man die eigenen Gedanken in Richtung Erfolg steuern und das Jammern im eigenen Betrieb ganz rasch abstellen kann. Sie erfahren, wie Perspektivwechsel immer zu neuen, zusätzlichen Handlungsoptionen führt und welche vier Motivatoren in jedem von uns wirken.
Wer die Herausforderung der Fachanleitung in einem sozialökonomischen Betrieb (SÖB) oder gemeinnützigen Beschäftigungsprojekt (GBP) übernimmt, hat dort nicht selten selbst einmal als Transitarbeitskraft1 gearbeitet oder aber einen bestimmten Beruf gelernt, meist einen handwerklichen.
Weder das eine noch das andere bereitet einen auf das vor was einen dort oft erwartet. Das hat vor allem damit zu tun, dass ja das eigentliche „Material“ mit dem man dort arbeitet, Menschen sind, Menschen, die schon längere Zeit weg vom Arbeitsmarkt sind und sich daher mit vielen Dingen schwer tun, die in der Arbeitswelt gefordert werden: Pünktlichkeit, Einsatzfreude, Leistungswillen, Teamfähigkeit usw. Der ursprüngliche Beruf, die Fachausbildung, die man zur Fachanleitung mitbringt, ist ja nur Mittel zum Zweck. Der eigentliche Zweck ist es, Menschen nach langer Erwerbspause dahingehend zu qualifizieren und zu trainieren, dass sie einem Job in Wirtschaftsunternehmen wieder gewachsen sind und dorthin vermittelt werden können.
Jetzt hat man als Tischler, Kellnerin, Maler oder Verkäuferin zwar fachliches Wissen, das in einem SÖB nützlich ist, aber dieses Wissen hilft oft zu wenig, wenn es darum geht, Transitarbeitskräfte zu motivieren, ihr Durchhaltevermögen zu steigern oder wenn man ihnen beibringen möchte, nicht gleich beim ersten Frusterlebnis das Handtuch zu werfen. Wenn man also mit und an Menschen arbeitet, nützt es, ein wenig besser zu verstehen wie wir Menschen funktionieren. Es braucht dazu kein Studium der Psychologie oder Pädagogik. Wobei das auch nicht schaden würde. Aber welche Psychologin hat dann wieder ausreichend fachliche Kenntnisse in Tischlerei, Gastronomie oder Verkauf, um kundenorientiert Aufträge abwickeln zu können?
Eben.
Ein bisschen Neurobiologie
„Das, was Paul über den Peter sagt, sagt mehr über den Paul aus als über den Peter.“ Das wusste schon Baruch de Spinoza, ein holländischer Philosoph im 17. Jahrhundert. Auch in der Psychologie und Pädagogik kennt und beschreibt man dieses Phänomen. Und man konnte das glauben oder nicht. Heute kann man das naturwissenschaftlich beweisen. Mit bildgebenden Verfahren der Gehirnforschung. Die folgende - stark vereinfachende - Grafik soll das veranschaulichen.
(Schaubild Eigenbearbeitung Georg Engel in Anlehnung an Jones Kortz, Vortragsskriptum Multivision e.V.)
Menschen reagieren und handeln auf Grund eines inneren Bildes, das sie sich von einer Situation machen. Im Schaubild ist die Situation als „Reiz“ beschrieben. Das innere Bild wird gespeist von den in unserem Gehirn abgespeicherten Erfahrungen und Erlebnissen. Es ist auch beeinflusst von unserem aktuellen Körperzustand, von Gefühlen und Gedanken, die gerade da sind. Unser Gehirn „prüft“ den Reiz und versucht, ihn mit den gespeicherten Erfahrungen abzugleichen bzw. ihn einzuordnen. Das alles passiert in Millisekunden und kaum etwas von diesen Vorgängen dringt in unser Bewusstsein. Das Bild, das schlussendlich entsteht, ist ausschlaggebend dafür, wie wir auf die Situation reagieren. Und wir reagieren in der Regel reflexartig, also ohne drüber nachzudenken.
Das Interessante ist, dass jeder Mensch auf ein und denselben Reiz ganz anders reagiert, auch wenn sich die Handlungen, die auf einen solchen Reiz folgen, dann durchaus ähnlich sein können.
Man konnte das in Experimenten nachweisen. Eine große Anzahl an Probanden erhielten den selben Ton- oder Licht-Reiz. Die Gehirnaktivitäten, die dadurch ausgelöst wurden, waren aber nur zu 5 Prozent gleich und zu 95 Prozent (!) gänzlich unterschiedlich. Das heißt oder belegt, was immer ein Reiz bei mir auslöst hat mehr mit mir selbst und meiner Geschichte bzw. meinem Erinnerungsspeicher zu tun, als mit dem Reiz.
Was hilft diese Erkenntnis für die sicher manchmal fordernde Tätigkeit in der Fachanleitung? Ein Beispiel: Eine Fachanleiterin in einem Gastronomie-SÖB erklärt einer Transitarbeitskraft das Kartoffelschälen. Sie zeigt es vor, lässt sie es ausprobieren, korrigiert, zeigt es nochmals vor usw. Nach mehreren Tagen des Erklärens ist das Ergebnis noch immer nicht annähernd so wie erwartet.
Fachanleiterin A reagiert auf diesen Reiz mit Verzweiflung … sie verlässt kurz die Küche und ist den Tränen nahe.
Fachanleiterin B reagiert ärgerlich und schnaubt die Transitarbeitskraft an: „Wann werden Sie das endlich hinkriegen!?“
Fachanleiterin C „versetzt“ die Transitarbeitskraft an die Abwäsche und schult jemanden anderen ein.
Fachanleiterin D fährt erst geduldig und später verbissen fort, der Transitarbeitskraft das Kartoffelschälen auf immer neue Arten näher zu bringen.
Fachanleiterin E geht zur Projektleitung und verlangt „werfen sie den Teilnehmer raus, der lernt das nie“
…
Das Beispiel könnten wir unendlich weiterführen. Warum? Weil eben jeder Mensch auf ein und denselben Reiz ganz unterschiedlich reagiert.
Wenn unsere Reaktion auf einen solchen Reiz erfolgreich ist, brauchen wir jetzt nicht weiter darüber nachdenken, sondern können uns freuen. In der Praxis ist es aber oft anders. Wir reagieren auf einen solchen Reiz, reflexartig, also ohne darüber nachzudenken, auf immer dieselbe Art und meistens haben wir damit keinen Erfolg. Die Folge sind oft Frust, dann Selbstzweifel oder Ärger. Wir verlieren die Lust.
Was kann da helfen?
Das Einzige, was wirklich hilft, ist aus dem Reflex-Modus auszusteigen. Der verhindert nämlich, dass wir neue und wahrscheinlich erfolgversprechendere Handlungen setzen.
Wie geht das? Ganz einfach: Wir richten einfach 20 Prozent unserer Aufmerksamkeit nach innen. Ziel ist es, bewusst wahrzunehmen, was ein solcher Reiz in uns auslöst. Auf drei Ebenen können wir unsere innere Reaktion wahrnehmen:
Körperlich – also was ein Reiz in unserem Körper auslöst.
Emotional – welche Gefühle der Reiz in uns auslöst.
Gedanklich – welche Gedanken der Reiz auslöst.
Diese, unsere, Reaktionen gilt es wahrzunehmen. Wahrnehmen und annehmen, also ein klares „Ja“ zu diesen Reaktionen zu haben, ist der Schlüssel, der Schlüssel zu echtem Selbst-Bewusstsein. Wer sich seiner selbst stets bewusst ist, also seine unwillkürlichen Reaktionen auf äußere Reize bewusst wahrnimmt und sie akzeptiert, nur der kann bewusst entscheiden, wie er handelt. Das wirkt selbstbewusst.
Wer bewusst entscheidet, wie er handelt, kann auch bewusst Neues ausprobieren, weil er nicht mehr der Gefangene seiner unbewussten Reaktionsreflexe ist. Bewusst zu entscheiden, welche Interventionen man als Fachanleiterin setzt, macht einen zum Profi und erhöht erwiesenermaßen den Erfolg. Diese Selbstwahrnehmung muss man üben, also das „Andrehen des inneren Scheinwerfers“ und das Lenken der eigenen Aufmerksamkeit. Allerdings geht das immer und überall und es braucht keine zusätzliche Zeit.
Perspektivwechsel erhöht die Handlungsoptionen
Ein weiterer sehr hilfreicher Aspekt dieses Selbst-Bewusstseins ist, dass es uns hilft, Perspektivwechsel durchzuführen. Perspektivwechsel sind deshalb wichtig, weil sie uns die Chance geben, ein bisschen mehr von der aktuellen Wahrheit zu erfahren und damit das Spektrum unserer Handlungsmöglichkeiten erweitern. Es gibt zumindest vier Perspektiven, die in der Arbeit mit Menschen nützlich sein können:
Die „Ich-Perspektive“ kennen wir alle. Der Blick nach außen und so agieren und reagieren, wie wir „gestrickt sind“. Das ist zwar „normal“ aber nicht immer nützlich, weil wir da gerne in die Falle unserer eigenen Geschichte tappen.
Die Selbstwahrnehmung, also der Blick nach innen, der uns stets Aufschluss darüber gibt, was Situationen oder Personen bei uns auslösen. Diese Perspektive ist der Schlüssel für bewusste Entscheidungen und professionelles Handeln.
Empathie nennt man die Perspektive, in der wir versuchen, uns in das Gegenüber einzufühlen. Auch da hilft der Erfahrungsschatz unserer 95 Prozent (siehe Schaubild) und auch diese Perspektive einzunehmen hilft in der Fachanleitung. Je besser wir das können, desto eher gelingt es uns, für Teilnehmende den individuell passenden Ton bzw. die richtige Intervention zu finden
Die Meta-Ebene ist die Perspektive aus der wir uns bildlich „von oben“ selbst zuschauen. Aus diesem Blickwinkel bekommen wir oft – eben mit etwas Abstand – eine Antwort auf die Frage: „Was ist da gerade gelaufen?“
Ein (wahres) Beispiel:
Ein Fachanleiter in einem Gastro-SÖB hatte für eine Veranstaltung Cocktails vorzubereiten. Er bittet einen Transitarbeiter: „Herr Muster, bitte gehen Sie rasch zum Billa und bringen Sie mir fünf Päckchen grüne Strohhalme.“ Herr Muster sagt: „Ja, Chef!“ und kommt nach 20 Minuten mit fünf Bund Schnittlauch zurück.
Aus der Ich-Perspektive: Der Fachanleiter ringt nach Luft, denkt sich: „So ein Trottel!“ und dreht schnaubend eine Runde um den Häuserblock, um wieder arbeitsfähig zu werden.
Er hätte auch seinen inneren Scheinwerfer andrehen können: Was löst die Situation in ihm aus? Erst Erstaunen, dann Verzweiflung, schließlich Ärger. Mit dieser Selbsterkenntnis hätte er mehrere und vor allem andere Handlungsoptionen gehabt.
Er hätte sich aber auch fragen können, was geht in dem Teilnehmer vor? Grün hat er offensichtlich verstanden, auch „fünf“ ist richtig angekommen. Vielleicht kennt er das Wort Strohhalm nicht? „Dem gehe ich nach“, wäre eine weitere Handlungsoption gewesen.
Er hätte die Situation auch aus der Meta-Ebene betrachten können. Hier ging es um einen Arbeitsauftrag. War vielleicht der Arbeitsauftrag nicht ausreichend klar? Die Anzahl „fünf“ ist angekommen, auch die Farbe „grün“, aber ist „Strohhalm“ wirklich die korrekte Bezeichnung für den eigentlich gemeinten Trinkhalm? Und immerhin: Schnittlauch ist wohl am ehesten etwas, das zu Strohhalmen werden könnte. Hat sich der Auftraggeber ausreichend vergewissert, dass sein Auftrag verstanden wurde? Auch aus diesem Blickwinkel ergeben sich neue Handlungsoptionen.
Die Erkenntnis damals war, dass der Transitarbeiter nicht nur schlecht Deutsch verstand und sprach, sondern dass er zudem Analphabet war. Auf Basis dieser Erkenntnis konnten die SÖB-Angestellten dann Maßnahmen gestalten, die seine Chancen auf berufliche Wiedereingliederung nachhaltig erhöht haben.
Neben dem Perspektivwechsel hilft es auch, zu wissen, was uns Menschen motiviert.
Neben individuellen Motivatoren gibt es 4 Dinge, die für uns alle gelten. Jeder Mensch braucht „4 B“:
Be-Achtung – also von anderen gesehen und wertgeschätzt zu werden
Beziehung – das Gefühl, zu einer Gruppe zu gehören
Beschäftigung – eine sinnvolle Aufgabe
Beteiligung – die Möglichkeit, etwas bewirken zu können, an etwas mit-wirken zu können
Erfolgreiche Fachanleitung nützt diese elementaren Grundbedürfnisse und gibt Transitarbeitenden „3+1 A“:
Aufmerksamkeit – und persönliche Wertschätzung,
Anschluss – an ein Team, eine Arbeitsgruppe, eine
Aufgabe – die als sinnvoll verstanden wird und
das Gefühl, gebrAucht zu werden.
Wie kann das in der Praxis gelingen?
Lassen wir einen Fachanleiter zu Wort kommen. Er war Teilnehmer im Fachanleiterlehrgang und hat mir Monate nach dem Kurs Folgendes geschrieben:
Es ist natürlich immer schwer, sich an bestimmte Situationen zu erinnern, aber Du hast uns mal gesagt, dass wir auch den TAKs (Transitarbeitskräften) sagen sollen, dass wir sie brauchen und dass es ohne sie nicht geht.
Ich war damals schon begeistert, die Sache von dieser Seite zu sehen. Mein damaliger Kommentar: „Das finde ich stark.“
Bei verschiedenen Projekten mit mehreren Leuten habe ich das auf unsere TAKs angewendet. Und man sieht doch gleich, wie es wirkt, wenn man sie auf einer anderen Ebene erreicht, die sie leicht stolz werden lässt.
Weswegen ich das hier überhaupt schreibe, ist ein bestimmter Arbeiter, der schon das zweite Mal bei uns im SÖB ist und das erste Mal bei mir.
Er hatte viele Probleme und war auch gesundheitlich nicht im besten Zustand. Die Sozialarbeiterinnen machten sich Sorgen um ihn. Ihm war momentan alles zu viel, so dass er aufhören wollte.
Seine Sozialarbeiterin bat mich, mit ihm zu reden, um ihn zu bitten, dass er nicht aufhört. Ich habe mich mit ihm zusammengesetzt und wir haben einfach ein Gespräch geführt, von 45 Minuten.
Einfließen lassen habe ich unter vielen anderen Themen auch, dass ich ihn benötige und dass es ohne ihn für mich viel schwerer wäre, weil ich derzeit einen Elektriker brauche.
Dass ich wirklich gerade einen Elektriker gebraucht habe, war ein Zufall. Ich habe ihm auch gesagt, dass ich einen für meine Arbeit „bestellt“ hätte.
Der Erfolg war durchschlagend. An diesem Tag wollte er uns verlassen und jetzt fühlte er sich gebraucht. Wie wichtig das für Menschen sein kann, ist enorm.
Mit einen Lächeln ist er aus dem Gespräch gegangen.
Die Sozialarbeiterin hat es nicht „gepackt“. Ich habe ihr gleich gesagt, dass sie das Dir (dem Fachanleiterlehrgang) verdankt, dass mir das gelungen ist.
Ich habe mir überlegt, ob ich das Gespräch auch ohne diese Weisheit zusammengebracht hätte.
Ich glaube, dass ich mir sehr schwergetan hätte, mit einem Beigeschmack, der eher an Überredung als an freiwillige Zustimmung erinnert. Es geht einfach leicht mit dieser Variante.
Dass das nur ein Teilerfolg war, ist natürlich auch klar, aber es war der erste Schritt. Manchmal freut man sich eben ein bisschen mehr, wenn etwas funktioniert! Ich habe mir das nicht verkneifen können, Dir das zu erzählen, weil es wirklich funktioniert hat.
Eine Prise positive Psychologie und Glücksforschung
Ich beziehe mich nochmals auf die Grafik zum „neurobiologischen Modell des Menschen“. Wenn unsere Erfahrungen und Erinnerungen zu 95 % dafür verantwortlich sind, wie wir auf Situationen reagieren, dann haben wir hier einen wirklich wirksamen Hebel in der Hand.
Menschen und Organisationen entwickeln sich in die Richtung, in die sie denken. Auch das ist eine Weisheit, die wir schon lange kennen, die heute aber auch durch Studien belegbar ist. So gab es Studien, die die Kommunikation in Unternehmen untersucht haben. Untersucht wurden die E-Mail-Kommunikation und die Kommunikation in Besprechungen. Die Ergebnisse sind beeindruckend. Unternehmen, die ein Verhältnis von positiver, lösungsorientierter Kommunikation gegenüber negativer, destruktiver Kommunikation von 5:1 aufgewiesen haben, schrieben hohe Gewinne und waren am Markt erfolgreich. Unternehmen, die ein Verhältnis von 1:1 hatten, waren auch nur mittelmäßig erfolgreich. Und die wenigen Unternehmen, bei denen die negative Kommunikation überwogen hat, standen kurz vorm Konkurs.
In manchen sozialökonomischen Betrieben habe ich Raunzer-Kulturen erlebt. Egal ob in Kaffeepausen oder während der Arbeit. Die Hauptthemen der Gespräche drehten sich um die Dinge, die nicht funktionieren und wie schlimm nicht alles ist. Was passiert da?
Die Menschen dort füllen ihren (Gehirn-)Speicher mit negativen Gedanken und Gefühlen. Das Resultat ist, dass Sie auf Reize immer mehr mit negativen, inneren Bildern reagieren und entsprechend (erfolglos) handeln. Sie vergiften sich selbst und entwickeln eine negative, destruktive Unternehmenskultur, die sehr schnell zu mehr Misserfolg führt und zu weiteren, negativen Gedanken. Das schadet dem Betrieb genauso wie jedem einzelnen und führt nicht selten zu häufigen Krankenständen, Burnout und innerer Kündigung.
Auch hier hilft innere Achtsamkeit. Wird man sich solcher gehäuften negativen Gedanken bewusst, hat man es in der Hand, die eigenen Gedanken und die Gespräche – ganz bewusst – in Richtung der gelungenen, positiven Ereignisse zu richten. Damit kann man seinen eigenen Erinnerungsspeicher zumindest neutral halten. Im besten Fall dreht man ihn bewusst ins Positive.
Wenn ich mit Unternehmen arbeite und solche Raunzer-Kulturen feststelle, gibt es ein einfaches Instrument, das ganz rasch abzustellen: den Jammerlappen.
(Foto: Georg Engel 2021)
Wer häufig jammert, sprich: immer nur das Negative sieht und darüber spricht, bekommt den Jammerlappen. Die Person muss ihn solange behalten, bis ihr eine andere Person im Betrieb auffällt, die häufig(er) jammert. Der darf sie den Lappen dann geben. Diese Person muss den Lappen ebenso lange haben, bis sie einen „Jammerer“ identifiziert usw.
Mit diesem kleinen Trick gelingt es meist sehr rasch, das Jammern einzudämmen und die Gedanken des Teams in Richtung der gelingenden und positiven Dinge zu richten. Achtung: Hier geht es nicht darum, sich die Dinge „schön zu reden“. Missstände müssen und sollen angesprochen werden. Wichtig ist aber, hat man sie identifiziert, gleich an Lösungen zu arbeiten und nicht in Jammern und Selbstmitleid zu verharren.
Jeder Mensch ist dafür verantwortlich, was er denkt und wie er denkt und damit auch, womit er seinen eigenen Erinnerungsspeicher anfüllt. Der Blick auf das Positive und Gelingende verhilft zu mehr Erfolg. Das Gefühl der Dankbarkeit gegenüber dem was gut ist, hält nachweislich gesund und resilient, also widerstandsfähig.
Wie lässt sich dieses Wissen in der Fachanleitung anwenden?
Ganz einfach:
Fragen nach den Dingen stellen, die positive Erinnerungen wachrufen!
Zum Beispiel: Was war das schönste Erlebnis Ihrer bisherigen Berufskarriere? Worauf waren Sie wirklich stolz? Erzählen Sie mir eine Situation, in der Ihnen die Arbeit wirklich Spaß gemacht hat.
Die Antworten setzen im Gehirn Endorphine (körpereigene Glückshormone) frei und bieten eine Fülle an Hinweisen, was die Person motiviert bzw. womit sie motivierbar ist.
Auch am Ende eines gemeinsamen Arbeitstages gemeinsam darüber zu reden, was an diesem Tag wirklich gelungen ist hilft, ein positives Gefühl mit nach Hause zu nehmen und Arbeit als etwas Bereicherndes zu erleben.
…
Im Grunde ist auch dieses Wissen nicht neu, aber heute belegen den Wahrheitsgehalt zahlreiche Studien. Schon Antoine de Saint-Exupéry ließ in seinem Buch den kleinen Prinzen sagen: „Wenn du ein Schiff bauen willst, beginne nicht damit, Holz zusammenzusuchen, Bretter zu schneiden und die Arbeit zu verteilen, sondern erwecke in den Herzen der Menschen die Sehnsucht nach dem großen und schönen Meer.“
Menschen und Organisationen entwickeln sich in die Richtung, in die sie denken.
Jeder Mensch hat es selbst in der Hand, zu entscheiden, was er denkt. Das ist einer der stärksten Hebel für positive Veränderung im Leben und im Betrieb. Diesen Hebel kann jeder Mensch jederzeit für sich nützen.
Neurobiologie: Hier beziehe ich mich auf das umfangreiche Werk von Gerald Hüther. Siehe auch: www.gerald-huether.de
Die positive Psychologie hat mehrere Wurzeln; einer der bekanntesten Autoren ist Martin Seligman. Siehe auch: www.positive-psychologie.ch
Autor
Georg Engel ist diplomierter Sozialarbeiter, hat Wirtschaft studiert, ist eingetragener Mediator und zertifizierter Erwachsenenbildner. Er hat einen der ersten sozialökonomischen Betriebe in Wien aufgebaut und geleitet – den Würfel - und weitere sechs Jahre Leitungserfahrung im SÖB-Restaurant Inigo und im GBP benefit_work, beides Projekte der Caritas Wien.
Er leitet seit 2012 den Lehrgang „Zertifikatsweiterbildung für Fachanleiterinnen und Fachanleiter sozialintegrativer Betriebe“ (www.georgengel.com) und ist als Unternehmensberater tätig. Seit 2020 leitet er auch das größte Freiwilligen-Projekt der Caritas Wien: Le+O (Lebensmittel und Orientierung).
Menschen, die nach vorheriger Arbeitslosigkeit auf befristeten (Transit-)Arbeitsplätzen in einem SÖB (sozialökonomischer Betrieb) oder GBP (gemeinnütziges Beschäftigungsprojekt) beschäftigt sind. Mit dieser Arbeit einher geht ein Angebot an Unterstützung (Qualifizierung, Beratung etc.), das einen (Wieder-)Anschluss an den Arbeitsmarkt fördert.
Der Jammerlappen-Haltung (großartiges Bild übrigens) entgegengesetzt - und meiner Meinung nach viel, viel konstruktiver - ist jene, die zum Beispiel der Kapitän der englischen Rugbymannschaft, Owen Farrell, nach der Niederlage gegen Wales im 2021er Six Nations-Turnier gezeigt hat. Während ihn die Interviewerin mit ihren Fragen unbedingt dazu bringen wollte, sich über den Schiedsrichter zu beschweren, blieb er dabei, dass sein Team sich darauf fokussieren müsse, was es auch beeinflussen kann.
Well done, meiner Meinung nach!