Über den Verein Der Würfel wurde schon einmal gesagt, er wäre für das Feld der sozialökonomischen Projekte in Wien das, was Deep Purple für den Hardrock wären. Die Parallelen sind bei näherer Betrachtung offensichtlich. Zum einen mit dabei, seit sich das Genre als eigenständig herauszubilden begann, welches man wiederum selbst maßgeblich mitgeprägt hat. Zum anderen hat man mehrere weitere, wichtige Bands oder Projekte hervorgebracht und mit Smoke on the water sowie dem Second-Hand-Handel zur Finanzierung gemeinnütziger Aktivitäten eine Markierung definitorischen Gewichts zu verantworten.
Andreas Thienel, Ideengeber und Gründer, und Georg Engel, 1985 dazugestoßen, haben mir aus der Geschichte des 1983 gegründeten Vereins erzählt und darüber sind wir auch über andere Themen ins Plaudern gekommen.
Man kann den Würfel in seiner ersten Phase als eine Gegenbewegung zum Abwärtsgleiten auf der Spirale der Arbeitslosigkeit – mit den Stationen Arbeitsverlust, materielle, soziale und gesundheitliche Probleme, Resignation, Vereinsamung, um nur ein paar zu nennen – verstehen. Aus einer Ideensammlung während eines Meetings in Andreas Thienels Wohngemeinschaft entstand schlussendlich der Verein zur Förderung von Selbsthilfegruppen – Der Würfel, für Menschen mit ungewollter Freizeit.
Der Name stand und steht dafür, dass niemand vor einem unerwarteten Schicksalsschlag sicher ist. Und der Geist ist getragen von einer Hinwendung zu Potentialen und Möglichkeiten; zu dem, was da ist und genutzt werden kann. Ganz in diesem Sinne wurde zur Finanzierung der Vereinsaktivitäten 1984 der Verkauf von Altkleiderspenden im – durchaus legendären - Second-Hand-Shop im 7. Bezirk, in der Myrthengasse, eröffnet. Die sonntägliche – in das junge Unterfangen wurde die Freizeit investiert - Abholung der Spenden wurde im Kleinanzeigenmagazin „Bazar“ inseriert und erfolgte mit Andreas Thienels orangen VW-Käfer, bei dem dafür der Beifahrersitz ausgebaut worden war.
Im nächsten Jahr startete in einem kohleofenbeheizten, auf Basis eines jederzeit widerrufbaren Prekariums zur Verfügung gestellten, Nebenraum das Beratungscafé und nach und nach wuchsen die Angebote in Umfang und Vielfalt – Kreativwerkstatt mit Programm an mehreren Tagen in der Woche, Trainingsangebote für Absolventinnen und Absolventen der Sozialakademie, stundenweise Beschäftigung für sozialpsychiatrische Klientel usw. Der Second-Hand-Shop war dann auf einmal auch immer wieder ein sozialer Treffpunkt, wo die Kundinnen gern ein, zwei Stunden zum Tratschen blieben. Entsprechende Nachfrage aus den Haushalten, zu denen es durch die Spendenabholung Kontakte gab, führte wiederum zum Angebot kleinerer Reparatur- und Instandsetzungsarbeiten.
Beim Fünfjahresfest brachte schließlich ein Gast vom Sozialministerium die Idee eines sozialökonomischen Betriebs (SÖB) ins Spiel – eine brandneue, aus Mitteln der Arbeitsmarktförderung finanzierte Projektform. Georg Engel wurde erster Leiter des neuen SÖB „Der Würfel – sozialökonomisches Beschäftigungsprojekt“ mit den Tätigkeitsbereichen Second-Hand-Handel und Kunsthandwerk und begann erst einmal gemeinsam mit zwei von der Arbeitsmarktverwaltung zugewiesenen Beschäftigungslosen mit der Renovierung des Standortes in der Berggasse im 9. Bezirk – auch hier diente ein Kohleofen in den ersten Jahren als Wärmespender. So viel, wie er damals vom Estrichlegen verstand – nämlich nichts – wusste er über die neue Projektform und heute bringt es Georg Engel so auf den Punkt: „Niemand hat gewusst, wie man einen sozialökonomischen Betrieb führt. Weder wir, noch die fördernden Stellen.“
Die beiden erzählen, wie damals alles mit Learning by doing begonnen hat. Ich denke, dass sicher auch das Tun von dem beeinflusst war, was die Agierenden davor gelernt hatten. Dass das neue Feld unter Anwendung vorhandener Begriffe und Modelle, erworbener Ausbildungen und Fähigkeiten geformt wurde. (Womit denn auch sonst, wenn man’s genau überlegt. Auch Ritchie Blackmore sagt dem Vernehmen nach übrigens, dass er für das berühmte Gitarrenriff von Smoke on the water bei Beethovens Fünfter abgeschrieben hat.) Oft hört man ja, dass „sozial“ und „ökonomisch“ einander widersprechen. Aber vielleicht stimmt das nur dann, wenn man das „Sozialökonomische“ entweder durch die soziale oder durch die ökonomische Brille ansieht und es stimmt nicht, wenn man eine andere Brille aufsetzt. Oder besser noch, gar keine. Als würde man vordefinierte Erklärungsfilter außer Acht lassen und die im neuen Feld entstehenden Erfahrungen und Erkenntnisse als Rohmaterial für eine eigenständige Know-how-Tradition verwenden. Georg Engel sieht das zum Beispiel in der Professionalisierung verwirklicht, die seit damals in allen beteiligten Institutionen stattgefunden hat. Anhand des Würfels kann man jedenfalls sehen, wie mit einem unternehmungslustigen Anfängergeist und dem Motiv, etwas für das Gemeinwesen zu tun, das allgemeine Vorstellungsvermögen darüber, welche neuen Arten von Gemeinwohlunternehmungen möglich sind, vergrößert werden kann.
Andreas Thienel sagt, dass der Bereich anfangs überwiegend vom Verständnis der [damaligen, d. Verf.] Sozialarbeit geprägt war. Dann gab es noch jene mit einer handwerklichen Ausbildung und das war’s im Wesentlichen. Heute ist das deutlich vielfältiger und mit der Funktion der Fachanleiterin bzw. des Fachanleiters entstand sogar ein eigenes Berufsbild. Was für ihn in allen seinen, früheren und laufenden, Projekten auf keinen Fall fehlen durfte bzw. darf, ist das Zusammenspiel aller Funktionen auf Augenhöhe und die wechselseitige Unterstützung im Hinblick auf das übergeordnete Ziel.
1997 wurde der SÖB „Der Würfel“ an die Volkshilfe übergeben (der Verein Der Würfel bestand und besteht weiterhin), weil rechtliche Änderungen bei der Haftung der Vorstandsmitglieder in Verbindung mit häufigen Rückständen bei der Auszahlung der Förderung das persönliche Risiko für die Würfel-Vorstände nicht mehr tragbar gemacht hatten.
2001/2002 bis 2007 war der Verein Teil einer Entwicklungspartnerschaft im Rahmen des europäischen Förderprogrammes EQUAL, aus der unter anderem der heutige SÖB „ArbeitsRaum“ hervorging. Ein deutliches Lebenszeichen der letzten Zeit war die SÖB-Fachtagung in Marienthal 2019.
Die Wirkungsgeschichte des Vereins Der Würfel ist lang und lebendig. Hierzu ein aktuelles Beispiel: Zwar wurden die letzten Spendenabholungen bereits im Jahr 2007 durchgeführt, dennoch bekam Georg Engel letztens erst einen Anruf einer Kundin, wann sie denn wieder einmal etwas abholen kommen könnten.
Andreas Thienel: Fachbereichsleiter des Bereichs Arbeit und Chance der Caritas Wien
Georg Engel: Selbständiger Unternehmensberater; Leiter des Projekts Le+O (Lebensmittel und Orientierung) der Caritas Wien
Dieser Text entstand auf Basis eines am ersten Sommertag des Jahres 2021 geführten Gesprächs. Das österreichische Fußballnationalteam war so nett, mit dem Führungs- und, wie sich dann herausstellte, Siegestreffer gegen die Ukraine so lange zu warten, bis wir fertig waren.
Gratuliere! Ein toller Artikel