Der Titel dieses Beitrags ist bei Johann Joachim Winckelmann entliehen. Dieser war es auch, der mit „edler Einfalt und stiller Größe“ den seither gültigen Begriff für das ungekünstelte Zusammenstimmen aller Teile eines klassischen Kunstwerks prägte. Davon kann man auch bei der „Perspektive Handel“ des sozialökonomischen Betriebes (SÖB) Inigo sprechen. Dort wurde durch kunstvolle Reduktion der Schnittstellen im Prozess der Unterstützung von Menschen am Weg in den Arbeitsmarkt eine Verbesserung der Prozesswirkung möglich.
„Innovation is not invention“, heißt es ja. Gemeint ist, dass erfolgreiche Neuerungen nicht notwendigerweise mit der Erfindung einer neuen Technologie oder Methode einhergehen müssen. Oder anders gesagt: Man muss das Rad nicht von Grund auf neu erfinden, um Neues zu schaffen. Ein aus Wiener Sicht naheliegendes Beispiel ist Anton Dreher, der Mitte des 19. Jahrhunderts in seiner Schwechater Brauerei durch die Kombination bereits vorhandener Brau-, Kühl- und Lagertechniken ein untergäriges Lagerbier herstellte, das nicht nur preiswert und haltbar war, sondern auch konstant gut schmeckte. So wurde Bier in der Weinstadt Wien zum Volksgetränk und der neue Bierstil hatte bald auch international kolossalen Erfolg1. Heute ist Lagerbier weltweit verbreitet. Auf eine ähnliche Art zeigte Innovation in einem Wiener sozialökonomischen Betrieb Erfolg. Ausgehend von der Studie des Arbeitsmarktservice (AMS) „Das Geheimnis des Erfolges“ entstanden vor einigen Jahren Standards für die Vermittlungsarbeit in SÖB. Einer dieser Standards sieht vor, dass die Betriebe Partnerschaften mit Unternehmen eingehen sollen. Gemeinsam soll systematisch und planmäßig die Entwicklung der im SÖB beschäftigten Transitarbeitskräfte koordiniert werden, sodass im Idealfall am Ende des befristeten Transitdienstverhältnisses eine Übernahme in die Partnerfirma steht. Im SÖB Inigo der Caritas Wien wurde dieser Gedanke mit viel innovativem Tatendrang umgesetzt. Unter dem Titel „Perspektive Handel“ wurde 2016 zunächst eine und zwei Jahre darauf eine zweite Spar-Filiale, beide im 10. Bezirk2, komplett als Teil des SÖB übernommen. Seither werden die beiden Supermärkte mit Transitarbeitskräften betrieben, die dort in den Bereichen Kassa und Regalbetreuung, Trockensortiment sowie Feinkost eingesetzt sind und ausgebildet werden. Der SÖB agiert dabei als selbständiger Kaufmann. Diese Form der Kooperation mit Einzelunternehmen ist bei Spar österreichweit bereits seit langem gängig. Der neue Weg unter Nutzung vorhandener Rahmenbedingungen und erprobter Modelle macht sich bezahlt. Bisher konnten ungefähr 60 Prozent der in den Märkten eingesetzten Transitarbeitskräfte erfolgreich vermittelt werden, über 80 Prozent davon wechselten zu Spar. Dafür gab es auch schon einmal den AMS-Award „Best for AMS“.
Vor einiger Zeit wurde in diesem Newsletter die Arbeit „Anforderungsprofil von Fachanleitungspersonal in sozialökonomischen Betrieben“ vorgestellt. Darin wird dargelegt, wie für den Bereich der Personalauswahl mittels des strukturierten und systematischen Sammelns und Auswertens von Informationen über eine zu besetzende Position, die für diese erforderlichen Kompetenzen abgeleitet werden und schlussendlich ein Anforderungsprofil entsteht.
Den einzelnen Kompetenzen wird spezifisches, beobachtbares Verhalten zugeordnet, wodurch sie operationalisierbar werden. Eine Methode dabei ist die Critical-Incident-Technique, die auf Ereignisse abstellt, „bei denen es Unterschiede im Vorgehen der Positionsinhaber gibt und die als erfolgskritisch (critical) betrachtet werden, also am Ende relevant dafür sind, ob der Positionsinhaber Erfolg hat oder nicht.“ Und während es „Aufgabe der Personalauswahl [ist], die Person zu finden, die am besten für die Stelle geeignet ist“, muss Personalvermittlung als Service für die Personalauswahl und als zu dieser komplementäre Handlung selbst wiederum spezifische Anforderungen erfüllen.
Die Anforderung, strukturiert und systematisch Informationen über eine bestimmte Position zu sammeln und auszuwerten ist mit den Inigo-Sparfilialen gleichsam im Projektaufbau erfüllt. Die dazu üblicherweise erforderliche Schnittstelle zur Projektumwelt (den potentiellen zukünftigen Arbeitsplätzen) wurde abgeschafft, die Ziel-Arbeitsplätze sind de facto die gleichen wie die im Projekt.
„Firmen können ihre Vorstellungen darüber, nach welchen Fähigkeiten sie bei der Personalauswahl suchen, nicht immer auch verbalisieren“, sagt Birgit Reingruber, die im Inigo den Bereich der Kooperation mit Spar leitet. „Mit unserem Weg, eigene Filialen zu führen, wissen wir selbst, was der nächste Dienstgeber braucht.“ Vermittlungen anderswohin sind eher die Ausnahme. „Die Critical-Incident-Methode setzt eigentlich die Möglichkeit einer Arbeitsprobe voraus, man will ja das Verhalten in einer bestimmten Situation beobachten. Das ist bei uns durch die Beschäftigung der Transitarbeitskräfte auf einem Arbeitsplatz, der sich vom - hoffentlich - zukünftigen kaum unterscheidet, gegeben. Und um vor dem Wechsel zu Spar ganz sicherzugehen, gibt es in jedem Fall auch noch zwei oder drei Probetage in der neuen Filiale.“ Der Kooperationspartner stellt auch Schulungsvideos und Online-Lerntools aus der eigenen Personalabteilung zur Verfügung.
Das zeigt Wirkung, wie Birgit Reingruber erzählt. Während für den Einstieg beim österreichischen Lebensmittelhandel-Schwergewicht an sich Deutschkenntnisse auf einem Niveau von mindestens B2 (die dritthöchste von sechs Stufen) nötig sind, beginnen in den vom Inigo geführten Filialen immer wieder auch Menschen mit niedrigerem Sprachniveau. Sie bestehen dort oft durchaus erfolgreich und können weitervermittelt werden. Die praktische Schulung von circa sechs Monaten im Inigo-Sparmarkt sowie interne Deutsch-Konversationsgruppen leisten dazu einen wertvollen Beitrag.
2021 wurde die Zahl der angebotenen Projektarbeitsplätze ausgeweitet und eine weitere Variante der Zusammenarbeit mit Spar begonnen. Nach der Vorbereitungsphase (eine mehrwöchige Einstiegsphase zur Vorbereitung auf ein Transitdienstverhältnis) in einer eigenen Filiale arbeiten die Transitarbeitskräfte danach im Rahmen einer gemeinnützigen Arbeitskräfteüberlassung an einem anderen Spar-Standort. Auf das Coaching- und sonstige Unterstützungsangebot des SÖB können sie auch in dieser Phase zurückgreifen.
Beim Transitpersonal ist die Entwicklung in Richtung regulärer Arbeitsmarkt ja die eigentliche Leistung von SÖB (und gemeinnützigen Beschäftigungsprojekten, GBP). Birgit Reingruber gibt ein paar Einblicke in die internen Standards: Während der Zeit im SÖB hat eine Transitarbeitskraft jeweils eine fix zugeordnete Kontaktperson aus dem Bereich des Fachanleitungspersonals und aus dem Coachingteam. Zweimal während des Transitdienstverhältnisses füllen alle drei einen Selbsteinschätzungs- bzw. Beurteilungsbogen aus, um die Entwicklung zu planen und zu reflektieren. Alle zwei Wochen stattfindende Teambesprechungen aller Schlüsselkräfte sind dem Austausch über die Transitmitarbeiterinnen und -mitarbeiter gewidmet.
Da sie zum Zweck der Unterstützung von Menschen beim (Wieder-)Eintritt in den Arbeitsmarkt eigene Betriebe führen, haben sozialökonomische Betriebe eine größere Anzahl erfolgsrelevanter Umwelten als andere Unternehmen und auch als andere Arbeitsmarktprogramme. Die Kooperation von Inigo und Spar ist in diesem Kontext eine Komplexitätsreduktion, die eine Verbesserung der Zielerreichung ermöglicht. Die gemeinnützige Arbeitskräfteüberlassung ermöglichte eine Ausweitung des Angebots ohne Erhöhung der Komplexität, weil bei diesem Modell keine projektinternen Arbeitsplätze benötigt werden – andernfalls hätte die Führung einer weiteren Filiale übernommen werden müssen.
Der Erfolg des untergärigen Lagerbieres hatte einen unbeabsichtigten Nebeneffekt auf eine sektorübergreifende Kooperation. Bis dahin bezogen die Bäcker für die Herstellung von Weißgebäck die Hefe von den Brauern. Die neue untergärige Hefe war für das Backen aber nicht mehr geeignet. Die von Mautner und Reininghaus erfundene Presshefe half dann, das Problem der Bäcker zu lösen3. Die „Perspektive Handel“ hilft Spar bei der Suche nach kompetentem Personal.
(Bildnachweis4 )
Birgit Reingruber hat Sozialwirtschaft studiert und ist ausgebildete Bildungsberaterin. Beruflich liegt der Schwerpunkt ihrer Expertise im Bildungs- und im arbeitsmarktpolitischen Bereich. Sie war in der Bildungsberatung und Arbeitsbegleitung für Jugendliche tätig und danach ab 2008 in der Caritas Wien in zwei Projekten (eines davon das INIGO) als Personalentwicklerin und Teamleitung. Seit 2016 ist sie im INIGO für das Geschäftsfeld Handel verantwortlich. (Link zum INIGO)
Begriffe
Transitarbeitskräfte: Menschen, die nach vorheriger Arbeitslosigkeit auf befristeten (Transit-)Arbeitsplätzen in einem SÖB oder GBP beschäftigt sind. Mit dieser Arbeit einher geht ein Angebot an Unterstützung (Qualifizierung, Beratung etc.), das einen (Wieder-)Anschluss an den Arbeitsmarkt fördert.
Vorbereitungsmaßnahme: Im Rahmen eines sozialökonomischen Betriebes oder gemeinnützigen Beschäftigungsprojektes kann zur Vorbereitung auf die Transitbeschäftigung eine Vorbereitungsmaßnahme vorgeschaltet werden. Sie dient der Arbeitserprobung bzw. dem Arbeitstraining.
Nachzulesen in: Die Wiener Brauherren – das goldene Bierjahrhundert, Alfred Paleczny, Löcker Verlag, Wien 2014
Die Geschäfte sind in der Quellenstraße 185 und in der Davidgasse 79 – 81.
In Bayern wurde zusätzlich verordnet, dass es in jeder Stadt mindestens eine Brauerei geben müsse, die obergäriges Weißbier braut.
Unbekannt, Geschäfts- bzw. Wirtshausschild vom 1843 demolierten Haus 5., Nikolsdorfer Straße 8 ("Bier"), ca. 1820–1840, Wien Museum Inv.-Nr. 71831/1, CC BY 4.0, Foto: Birgit und Peter Kainz, Wien Museum (https://sammlung.wienmuseum.at/objekt/480986/)