Geschichten, wenn sie gut sind, erzählen mehr, als in ihnen gesagt wird und mehr, als wir verstehen. Diesen Satz habe ich einmal in einem Vortrag von Bert Hellinger gehört. Er fiel mir ein, als ich mir dachte, ich sollte etwas mehr dazu erklären, worum konkret es sich beim Gegenstand dieser Seiten handelt. Aber natürlich ist er mehr, als ich sagen könnte und mehr, als ich davon verstehe. Wiederum aber kann ich schon mehr erklären, als nur, dass es sich um “irgendetwas” handelt. Eine unbestrittene Konstante ist, dass es um’s Arbeiten geht. Einen persönlichen Eindruck habe ich mir vor einiger Zeit bei einem Wiener sozialökonomischen Betrieb (SÖB), dem TOP-Lokal, verschafft.
Meine Finger sind klebrig von den Speiseresten auf den Tellern, die ich abräume, aber ich habe bereits ziemlich bald nach Beginn meiner Schicht damit aufgehört, ständig Hände waschen zu gehen. Es ist sinnlos, weil man ohnehin kurz darauf wieder irgendwo hineingreift. An zwei Wänden des Raumes sind weiß und orange gedeckte Tische aneinandergereiht, darauf das Buffet - Kaffee, warme und kalte Speisen, Geschirr, Besteck und Servietten - davor die Gäste, dahinter putzen wir die abservierten Teller rasch in einen Kübel ab, leeren halbe Kaffeetassen aus und verstauen das gebrauchte Geschirr in unter den Tischen stehenden Kisten. Kniebeuge, volle Kiste hoch und am Ende des Buffets links die Rampe hinauf in den Vorbereitungsraum (im Fachjargon Manipulationsraum), auf den Kistenstapel. Dann zurück, Tablett abwischen und auf zur nächsten Runde zwischen den Tischen und Ausstellungsständen. Im Vorbeigehen rieche ich schwach den Brennstoff der kleinen Heizvorrichtungen unter den Warmhaltebehältern am Buffet.
Wir, das sind jetzt um die Mittagszeit Christine und ich, weiters der Serviceleiter. Fatima betreut einen Raum weiter die Bar. Geschätzt 400 Gäste sind nun da. In Kürze werden Kamiran und Slavisa als zusätzliche Verstärkung eintreffen. Die Fachmesse der Büro Handel GmbH in den Veranstaltungsräumen der Österreichischen Lotterien am Rennweg läuft bereits seit dem frühen Vormittag. Nach dem gestrigen Aufbau hat der Dienst für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des TOP-Lokals am heutigen Tag mit dem Frühstücksbuffet begonnen.
Abgesehen vom Serviceleiter sind bei diesem Catering nur temporär in sogenannten Transitdienstverhältnissen beschäftigte Damen und Herren (Transitarbeitskräfte) eingesetzt, die nach bereits längerer Arbeitslosigkeit durch das befristete Dienstverhältnis in dem vom Arbeitsmarktservice (AMS) geförderten und beauftragten SÖB eine bessere Chance auf eine Beschäftigung am regulären Arbeitsmarkt bekommen sollen. Ich habe heute die Möglichkeit, für sechs Stunden mitzuarbeiten und mir damit auf die unmittelbarste Art einen Eindruck davon zu verschaffen, wie die Arbeitsbedingungen für die vom AMS dort hin vermittelten Menschen im Catering eines SÖB sind.
Meine Erfahrungen in der gastronomischen Praxis beschränkten sich bis dato auf das Gast sein. Und ab dem Moment, als ich meinen Einsatz mit dem TOP-Lokal fix vereinbart hatte, waren in mir Fragen aufgetaucht, wie es denn werden würde. Und die kleinen Unsicherheiten waren real, nicht nur hypothetisch. Ich hatte ja schließlich darum gebeten, Mitarbeiter, nicht Zuschauer zu sein. Sicher, die möglichen Konsequenzen waren überschaubar – zum Beispiel würde ich auch bei maximaler Untauglichkeit nicht tags darauf beim AMS erklären müssen, wieso ich schon wieder da wäre.
„Schneller greifen!“, fällt mir ein häufig angebotener Rat unserer Ausbildner beim Bundesheer ein, als die Arbeit nun noch schneller wird. Unglaublich, welche Unmengen an Geschirr hier verbraucht werden. Ich habe auch schon gelernt, wie schwer eine Kiste voller Besteck ist – bisher war ich nur Haushaltsmengen gewohnt, 6 Gabeln, 6 Messer und so. Und plötzlich ist etwas anders. Ich kenne das aus den Proben mit der Band, niemand weiß im Voraus, wann der Groove kommen wird und keiner sieht ihn bei der Tür hereinkommen, aber jeder spürt sofort, wenn er da ist. Genau so harmoniert das orange-weiße Team mit einem Mal merklich anders als noch gerade eben – now we’re rolling! Wer besser steht, nimmt dem anderen die hereinkommende Last ab. Auf engem Raum suchen und finden wir den optimalen Weg für das Geschirr in die Kiste. Kniend strecke ich ohne aufzuschauen die Hand aus und der Kollege gibt mir die richtige Geschirrsorte, ohne zu fragen. Ich habe kapiert, dass es Slavisa an der Bar lieber ist, wenn er mir die leeren Gläser selbst vom Tablett nehmen kann und stelle sie ihm nicht mehr einzeln hin. Das ist jene Stärke des SÖB-Konzeptes, die darin besteht, die Leute in einem echten Arbeitsumfeld kennenzulernen; ein großer Vorteil, wenn es dann darum geht, gemeinsam den potentiellen, nächsten Dienstgeber zu überzeugen. Dieses Element der realen Beschäftigung und der daraus im Hinblick auf die Weitervermittlung zu gewinnenden Erkenntnisse können nur sozialökonomische Betriebe – und die ihnen verwandten gemeinnützigen Beschäftigungsprojekte – bieten.
Gegen 18 Uhr räumen wir eine erste Ladung Ausrüstung zum Rücktransport ins Lokal am Fleischmarkt in das Auto ein, die Räumlichkeiten müssen noch heute wieder komplett geräumt sein. Kurz stütze ich mich vornübergebeugt mit den Händen auf die Knie und spüre das Ziehen im Kreuz. Ich sehe den Serviceleiter schmunzeln. Er wird am Ende des Tages – der am Rennweg auf Bitte des Veranstalters noch etwas länger geht als ursprünglich geplant - sehr viel länger als ich auf den Beinen gewesen sein, die echten Transitarbeitskräfte großteils ebenfalls. Am Fleischmarkt treffe ich die Geschäftsführerin wieder, sie musste nach dem Mittagsandrang beim Catering wieder zurück, um gemeinsam mit einer zweiten fixangestellten Servicekraft von den beiden Sozialpädagoginnen zu übernehmen, die in der Zwischenzeit den Betrieb im Lokal mit den Transitarbeitskräften geschupft haben. Sie sind täglich in die betrieblichen Abläufe eingebunden und dadurch im beständigen Austausch mit dem restlichen Fachpersonal in Küche und Service. Aus diesem Zusammenspiel entsteht ein unterstützendes System, das immer wieder Erfolge ermöglicht wie jenen Fall des 56jährigen, seit fünf Jahren arbeitslosen Mannes, der über das TOP-Lokal seit bereits über einem Jahr wieder in seinem früheren, technischen Beruf Arbeit gefunden hat. Als Transitarbeitskraft im SÖB hatte er als Speisenausträger begonnen und die Vermittlung gelang nicht zuletzt mit Hilfe einer Phase der gemeinnützigen Überlassung als Übergang vom TOP-Lokal zur neuen Arbeitsstelle.
Tags darauf beginnt die linke Ferse heftiger zu schmerzen. Ich nehm’s wie die Sportblessuren auch immer – als Trophäe und mit einer kleinen Prise Stolz. Und der ist so echt, wie es die Unsicherheit im Vorfeld war. Wirklich wahr.
Gramanzer: Wienerisch für eine Hilfskraft, die im Gasthaus die Tische abräumt.