Alexander Maly hat 1988 die Wiener Schuldnerberatung konzipiert und gegründet, während der darauffolgenden dreißig Jahre hat er sie geleitet. Er ist, unter anderem, Sozialarbeiter, Lehrender, Buchautor, Aufsichtsrat der Zweiten Sparkasse, Obmann des Vereins zur Förderung assistierter Zahlungssysteme, Träger des Silbernen Ehrenzeichens für Verdienste um die Republik Österreich und großer – auch aktiver, er spielt Klavier – Musikliebhaber.
Mein Besuch in Aberdeen wurde bereits an anderer Stelle auf Nuzzes erwähnt. Später im selben Jahr absolvierte ich ein Langzeitpraktikum in der Wiener Schuldnerberatung. Heuer im Sommer ergab es sich, dass wir in einem schattigen Garten bei Kaffee und Pfirsichkuchen saßen. Das nachstehende Gespräch zum Gegenstand dieser Seiten entwickelte sich dabei.
Unser Newsletter ist ja sozialökonomischen Betrieben (SÖB) und gemeinnützigen Beschäftigungsprojekten (GBP) gewidmet. Entsprechend naheliegend ist die Frage nach dem Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Schulden aus deiner Sicht.
(Lacht.) Danach bin ich in Interviews sehr oft gefragt worden. Jedenfalls ist ein Jobverlust die von Klientinnen und Klienten am häufigsten genannte Ursache für ihre Überschuldung. Nach meiner Erfahrung erfolgt diese Nennung oft aber auch deshalb, weil man mit ihr dem Stigma des Schuldenmachens noch am ehesten entkommt. Arbeitslosigkeit wird als gesellschaftlich anerkannte Begründung für Schulden angesehen. Ohnehin muss eine monokausale Erklärung für Überschuldung im Allgemeinen fehl gehen. Beispielsweise sind bestimmte Gruppen schon deshalb stärker gefährdet, weil – abgesehen von den allgegenwärtigen Möglichkeiten, sich zu verschulden - weitgehend akzeptierte, ethische Richtlinien verschwunden sind. Ich denke dabei zum Beispiel an so etwas wie „Ein Arbeiter bildet sich in seiner Freizeit weiter, trinkt nicht und macht für unnötiges Zeug keine Schulden.“ Und dieses Verschwinden muss man den früheren Trägern einer solchen Kultur anlasten, die sich in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr mit der Kreditanbieterseite verhabert haben.
Zum vorhin angesprochenen Stigma ist auch noch auf den ganz auffälligen, harten Kontrast zwischen einem allgemeinen Klima der Permissivität – Konsum ist wichtig, Schulden machen ist ok – und den strengen, strafenden Mechanismen, wenn es beim Zahlen Schwierigkeiten gibt, hinzuweisen. Damit verbunden ist auch ein interessantes Phänomen der Abspaltung; die Fälle mit Problemen bearbeitet nicht der freundliche Mitarbeiter in der Bankfiliale weiter, sondern eine andere Abteilung in der Zentrale. Und auch große Unternehmen - ich denke zum Beispiel an Mobilfunkanbieter - die es sich sicherlich leisten könnten, das Eintreiben ausständiger Zahlungen intern zu machen, beauftragen stattdessen Inkassobüros.
Grundsätzlich ist es so, dass, wenn die Rückzahlung von Schulden einmal ausbleibt, die Standarddeutung Zahlungsunwilligkeit ist, nicht vielleicht Zahlungsunfähigkeit. Dementsprechend rasch und unerbittlich setzen üblicherweise die Eskalationsmechanismen ein – Mahnung, Fälligstellung, Vertragskündigung, Exekution und dergleichen. Dabei kann es eigentlich leider recht schnell gehen, dass man nach einem Unfall im Spital liegt und wenn es dann kein Umfeld gibt, dass sich um die Zahlung der Miete kümmert, kann auch schon die Wohnsituation wacklig werden.
Etwas ganz Neues, dessen Entwicklung spannend mitzuverfolgen sein wird, ist die sogenannte Sammelvollstreckung. Das ist quasi eine von Amts wegen bei Zahlungsunfähigkeit eingeleitete Vorstufe zu einem Privatkonkurs. Vorstufe sage ich deshalb, weil man den Antrag auf Privatkonkurs weiterhin selbst einbringen muss. Bei der Sammelvollstreckung wird pfändbares Vermögen auf die Gläubiger verteilt, statt dass wie bisher die Ansprüche in Reihenfolge ihrer Anmeldung befriedigt werden. Die Einleitung dieses Verfahrens – und dadurch die Zahlungsunfähigkeit - wird veröffentlicht. Das kann als Schutz davor, weitere Schulden zu machen, sein Gutes haben, wenn den Betroffenen deshalb keine Kredite mehr verkauft werden. Wenn mir dann aber auch vielleicht keine Wohnung mehr zur Miete angeboten wird, hat man mit der Veröffentlichung ein neues Problem geschaffen.
Macht es in der Schuldnerberatungsarbeit einen maßgeblichen Unterschied, ob die Klientin oder der Klient arbeitslos ist oder nicht?
Auf den ersten Blick mag es widersprüchlich erscheinen, aber am Beginn der Schuldenregulierung ist Arbeitslosigkeit, eigentlich konkret das damit verbundene, geringe Einkommen, günstig, weil bei der Berechnung des über die nächsten fünf Jahre zurückzuzahlenden Betrages von der aktuellen Einkommenssituation ausgehend hochgerechnet wird. Das bedeutet: Je höher zu diesem Zeitpunkt die Einnahmen sind umso höher sind die berechneten Rückzahlungen. Bei Überschuldeten sind allerdings schwankende Einkommensverläufe typisch und da ist eine höhere Rückzahlung möglicherweise nach einem oder zwei Jahren nicht mehr zu schaffen.
Was mir leider auch untergekommen ist, sind Fälle, in denen Menschen mit stabilem Einkommen aufgrund, man muss es fast so nennen, räuberischer Praktiken unter die Räder gekommen sind. Ich hatte zum Beispiel einen Beamten in der Beratung, der mit der Kreditrückzahlung ins Schleudern gekommen war. Der Bank entstand dadurch das Recht auf Verzugszinsen und auf Lohnpfändung. Das Einkommen des Mannes und die sich aufbauenden Zinsen waren jeweils in solcher Höhe, dass es durch die Pfändungen zu keinem Abbau der ursprünglichen Schuld, also des Kreditbetrages, kam. Wäre es nicht durch die Beratung zu einer Schuldenregulierung gekommen, hätte die Bank bis zu seiner Pensionierung durch die über den langen Zeitraum anfallenden Zinsen deutlich mehr Einnahmen erzielt als bei einer Abzahlung des Kredits unter normalen Umständen. Und auch in der Pension wäre der Klient seine Schulden noch immer nicht los gewesen. Natürlich war eine dahingehende Absicht seitens der Bank nicht nachzuweisen, aber der Mann war eindeutig erkennbar kein Typ, der in Geldangelegenheiten besonders kompetent ist und die Konditionen des Kreditvertrags passten schon merkwürdig exakt zum vorhin erwähnten Szenario der Ertragsmaximierung durch Nichtabbau der ursprünglichen Schuld im Pfändungsfall.
Oft werden Klientinnen und Klienten der Schuldnerberatung parallel auch in anderen Einrichtungen beraten oder betreut, auch in SÖB und GBP. Ihr habt in der Schuldnerberatung eine IT-Anwendung für solche Fälle entwickelt.
Das Angebot heißt „Schulden online“ und ist eine Form von Fallübergabe von einem anderen Betreuungskontext an die Schuldnerberatung. Es bündelt die Ressourcen der beteiligten Einrichtungen und unterstützt die Aussicht auf eine Beendigung der Schuldenproblematik einer Klientin bzw. eines Klienten. Alle, denen die Klientin bzw. der Klient dazu die Berechtigung erteilt, können auf eine zentrale Datenbank zugreifen und jene Daten erfassen, die für die Schuldenregulierung benötigt werden. Also, wo überall bestehen Schulden? In welcher Höhe? Und so weiter. Die Dateneingabe durch eine oder mehrere betreuende Einrichtungen beschleunigt unter anderem auch den Beratungsverlauf in der Schuldnerberatung. Entsprechend besser ist dann die Chance auf eine frühere Lösung der Schuldenprobleme, damit ist wiederum eine Verbesserung der Aussichten am Arbeitsmarkt verbunden etc.
Jetzt ist allerdings die Erwartung eines linearen Fortschrittsverlaufs bei Klientinnen und Klienten oft nicht angemessen. Manche Menschen brauchen viele Anläufe. Ich hatte Fälle, in denen ich jährlich kontaktiert wurde, weil der Gerichtsvollzieher nun doch schon wieder da war. Wenn ich dann die Unterlagen mit den Vereinbarungen vom letzten Mal hervorgeholt habe, stellte sich heraus, dass sie nicht eingehalten worden waren. Ich benutze gern das Bild, dass diese Menschen sich auf einer unregelmäßigen Umlaufbahn um die Problemlösung bewegen. Einmal sind sie weiter weg, dann – vielleicht für einen kurzen Zeitraum nur – wieder näher. Meine Aufgabe ist es, gleichsam im richtigen Augenblick die Beleuchtung der Landebahn aufzudrehen und sie hereinzuwinken. „Schulden online“ ist hier hilfreich, weil die erarbeiteten Datenbestände die ganze Zeit über gut zugänglich erhalten bleiben.
Was es allerdings leider auch gibt, sind jene Fälle, für die ich die Unterscheidung zwischen „Weg der Erfahrung“ und „Weg des Geistes“ verwende. Bei jenen, die den „Weg der Erfahrung“ gehen, besteht die Intervention darin, den vollständigen Zusammenbruch abzuwarten. Diese Erfahrung muss gemacht werden, weil sich der Geist leider nicht einschaltet, um das Problem schon früher zu akzeptieren und die nötigen Schritte zu unternehmen.
Deine Funktion als Geschäftsführer der Wiener Schuldnerberatung hast du 2018 zurückgelegt. Für diejenigen, die dich kennen, ist es nicht überraschend, dass du beim Thema Hilfe beim Umgang mit Geld weiterhin unverändert aktiv bist. An wen richtet sich dein Projekt einer Assistenz-App?
Die Hauptzielgruppe sind alt werdende Menschen. Aber an sich ist das auch ein Hilfsangebot für andere, die ihr Geldleben – aus unterschiedlichen Gründen – nicht vollumfänglich unter Kontrolle haben. Aktuell wird mit einer großen, österreichischen Bank und mehreren großen Hilfsorganisationen eine Bedarfserhebung durchgeführt. Aus meiner Sicht wird es zwei Hauptanwendungsbereiche geben. Einerseits jene Situation, in der eine betreuende Person etwas mit dem Geld der betreuten Person für diese macht, etwa einkaufen geht. Zum anderen als unterstützende Technologie beim Agieren mit dem eigenen, digitalen, Geld, wo zum Beispiel 10 Euro in einem Eisgeschäft ausgegeben werden können, 10 Euro im Spielsalon aber nicht. Was wir im Zusammenhang mit dem Projekt Assistenz-App auch machen, ist eine Analyse der gesetzlichen Rahmenbedingungen im Hinblick auf erforderliche Änderungen. Ob es wirklich sein muss, dass für die Überweisung der Miete für die Wohnung dieselben Geldwäschebestimmungen angewendet werden, wie für die Überweisung von 10.000 Euro irgendwohin, stelle ich zum Beispiel in Frage.
Ich weiß, dass du während deiner gesamten Zeit in der Schuldnerberatung immer Wert darauf gelegt hast, selbst Beratungen durchzuführen.
Beratung ist nun einmal etwas, das zwischen Menschen stattfindet. Ich kann schlecht Geschäftsführer einer Beratungseinrichtung sein, wenn ich das Gefühl für das eigentliche Geschäft verliere. Auch deshalb war mir das wichtig. Tatsächlich hat es sich so ergeben, dass mir auch als Pensionist über mein erweitertes, privates Umfeld jährlich so um die zwei Fälle zugetragen werden. (Schmunzelt.)
Alexander, vielen Dank für das Gespräch!
Verein zur Förderung assistierter Zahlungssysteme
Informationen zur Nutzung von “Schulden online” für und mit Klientinnen und Klienten der Wiener Schuldnerberatung gibt dieselbe.